Lesetipp

Aussensicht einbeziehen wird unumgänglich

von Adrian Hadorn | September 2016
Die Festschrift «Globale Schweiz» zum 100-Jahr-Jubiläum der Auslandschweizer Organisation bietet eine detailreiche Mischung aus chronologischer und thematischer Berichterstattung.

Wer abenteuerliche Auswanderergeschichten in exotische Länder erwartet, wird nicht auf seine Rechnung kommen. Der Autor Rudolf Wyder schreibt in der Einleitung:

«Das Verhältnis der Schweiz zu ihren Ausgewanderten während eines Jahrhunderts ist der Gegenstand dieses Buches…Die Mobilität der Schweizerinnen und Schweizer ist von zentraler Bedeutung für Vernetzung und Wahrnehmung der Schweiz, für Innovationsfähigkeit und Wohlfahrt des Landes.» (S.11)

Die ASO wird von rund 750 Schweizervereinen und schweizerischen Institutionen in aller Welt getragen. Die seit 1916 bestehende Organisation wird von den Behörden als Sprachrohr der Fünften Schweiz anerkannt. 760 000 Schweizerinnen und Schweizer leben und arbeiten im Ausland.

«Die Aussensicht einzubeziehen, wird mit wachsender Globalisierung immer unumgänglicher.» (S. 237)

«Auswanderung ist eine Existenzfrage für unsere Wirtschaft…die Exportindustrie ist auf die Landsleute im Ausland…angewiesen…Im Übrigen hat immer schon nicht allein das Heimweh, sondern auch der Zug nach der Ferne im schweizerischen Wesen gelegen.» (S. 142)

Rudolf Wyder verbindet ideal Innen- und Aussensicht. Er ist Historiker und war lange Jahre Direktor der ASO. Mit akribischer Sorgfalt beschreibt er historische Prozesse; wie zum Beispiel das Thema der Sozialversicherung für Auslandschweizer über Jahrzehnte die Debatten in den Auslandvereinen und im Parlament, im Bundesrat und in der Verwaltung animierte; oder wie in den 100 Jahren immer wieder das Thema des Stimm- und Wahlrechts der Auslandschweizer gewälzt wurde.

Er hat das Gespür und das analytische Rüstzeug, um Schlüsselmomente zu erkennen, aber auch den Mut, grundsätzliche Werthaltungen deutlich zu machen. So zum Beispiel in der Beurteilung eines der Gründerväter der Neuen Helvetischen Gesellschaft/NHG, welche die ASO ins Leben rief: Gonzague de Reynold mit seiner Bewunderung für Hitler, Mussolini und Salazar. Der Autor beschreibt zwar Aktivitäten von Auslandschweizern zugunsten der Nazis, der italienischen Faschisten, für und wider die Franco-Diktatur, rapportiert aber genau, wie die ASO Stellung nahm:

«Zumal seit dem Machtantritt Hitlers verwendet die ASO grosse Anstrengungen darauf, faschistischer und nationalsozialistischer Agitation entgegenzutreten und die Auslandschweizer-Institutionen gegen totalitäres Gedankengut zu immunisieren.»

Die ASO-Festschrift ist eine detailreiche Mischung aus chronologischer und thematischer Berichterstattung. Sehr hilfreich sind die 15 Kapitelüberschriften und die vielen Zwischentitel (z.B. «Doppelbürger – von Abtrünnigen zu Brückenbauern» oder «Was, wenn das Freizügigkeitsabkommen dahinfällt?»). Sie erleichtern dem Leser die Voraus-, die Rück- und die Zusammenschau.

Keiner kennt die Organisationsentwicklung der ASO so genau wie Rudolf Wyder. Hier seien nur einige Eckpunkte aus seiner Festschrift erwähnt:

  • Minutiös wird die Entstehungsgeschichte sowohl des Artikels 40 der Bundesverfassung vom 18. April 1999 («Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer») wie auch des Auslandschweizergesetzes vom 26. September 2014 nachgezeichnet.

  • Finanziell steht die ASO seit 1938 solide da dank der Bundesfeierspende.

  • Diverse Reformschritte von 1959 schaffen den Rollenwechsel von einer Organisation für Auslandschweizer zur Organisation der Auslandschweizer. (Nothing about us without us).

  • Ab 1995 können Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer wählen und ins Parlament gewählt werden. Letzteres wird aber erst 2015 Tatsache durch die Wahl von a.Botschafter Tim Guldimann aus Berlin.


Spannend und höchst aktuell ist das 13. Kapitel «Europäische Integration». Der Auslandschweizer-Kongress 1992 in St. Gallen begrüsst «die Bemühungen, die die Mobilität der Schweizer auf dem ganzen Kontinent vergrössern und die zur Lösung vieler Probleme der Landsleute im Ausland in den Bereichen Niederlassung, Anerkennung von Diplomen, Sozialversicherung und Kapitalverkehr führen.» (S. 244)

Im Wahljahr 2003 gibt die ASO eine Repräsentativumfrage in Auftrag mit erstaunlichem Resultat: «Die Mehrheit der Befragten hat für den UNO-Beitritt, den Beitritt zum EWR, die bilateralen Abkommen mit der EU sowie für die Volksinitiative, die eine rasche Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU verlangt, gestimmt.» Das gängige Klischee vom konservativ wählenden Auslandschweizer erweist sich als falsch.

Der Autor scheut sich nicht, die jetzige Führung der ASO in ihrer Haltung zur europäischen Integration der Schweiz zu kritisieren: «Offenkundig scheuen sich sie Verantwortlichen der ASO vor der Konfrontation mit dem immer dreisteren nationalkonservativen Lager zurück.» Er selber nimmt – nun als Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik/SGA - weiterhin engagiert Stellung: Artikel

Rudolf Wyder, Globale Schweiz. Die Entdeckung der Auslandschweizer, Stämpfli Verlag, Bern 2016, 304 Seiten.