Lesetipp

Bilateralismus – was sonst?

von Markus Mugglin | Januar 2016
Es mag Alternativen zum bilateralen Weg geben. Doch das Ergebnis lautet «Bilateralismus – was sonst?» Was geschieht aber, wenn die Schweiz vom Kurs abkommt? Es könnte ungemütlich werden – aber nicht unbedingt wegen der oft beschworenen «Guillotine-Klausel».

Droht der Schweiz die «Guillotine-Klausel», mit der die EU wegen Verletzung der Personenfreizügigkeit alle Abkommen der Bilateralen 1 ausser Kraft setzt? Die Frage wird oft zur momentan entscheidenden Frage für das Verhältnis Schweiz – EU hochstilisiert. Zu Unrecht. Nach der Lektüre des Beitrags «Beziehungen Schweiz – EU: Status quo und Perspektiven» der Freiburger Europarechts-Professorin Astrid Epiney weiss man, dass sie das nicht. Wer es dennnoch tut, verharmlost letztlich die Risiken, welche die Schweiz mit dem Volks-Ja zur Zuwanderungs-Initiative eingeht.

Die Guillotine könnte der letzte Akt der Bilateralen sein. Die EU verfügt aber über andere und flexiblere Instrumente, um auf einen Verstoss der Schweiz gegen das Prinzip der Personenfreizügigkeit zu reagieren. Und strikt nach den Regeln des Völker- und EU-Rechts.

Gegenmassnahmen unterschiedlicher Art wären zulässig und denkbar (S. 51) und «zumindest mit Retorsionen wäre zu rechnen» (Seite 53), warnt die Expertin. Gegenmassnahmen im Warenverkehr, keine Beteiligung mehr an den Forschungs- und Studierendenabkommen. Und weil die Personenfreizügigkeit in sehr engem Zusammenhang mit dem Schengen- und Dublin-Raum steht, könnten die einzelnen Mitgliedländer noch zusätzlich Retorsionsmassnahmen ergreifen. Kommt hinzu, dass Gegenmassnahmen und Retorsionen nur eine qualifizierte Mehrheit statt Einstimmigkeit wie bei der Guillotine-Klausel erfordern.

Die strikt juristische Analyse der Europarechtlerin Epiney hat politische Sprengkraft. Die Erläuterungen lassen erahnen, welch grosse Risiken der Bundesrat mit einer einseitigen Schutzklausel einginge.

Das von Astrid Epiney verfasste gut 50-seitige Kapitel ist für alle Pflichtlektüre, die realitätsnah über die Zukunft der Beziehungen Schweiz – EU mitreden wollen. Aber auch darüber hinaus bietet «Bilateralismus – was sonst?» wertvolle Informationen und Analysen zu den zentralen Fragen im Beziehungsgeflecht Schweiz – EU: Über die Entwicklung des Arbeitsmarkts unter dem Regime der Personenfreizügigkeit, über technische Handelshemmnisse sowie Sektoranalysen zu Industrie, Dienstleistungen mit besonderem Blick auf Banken und Versicherungen, Infrastruktur mit den Teilbereichen Landverkehr, Luftverkehr und Strom. Was hat sich verändert mit welchen Ergebnissen, welche Wünsche sind offen, welche Optionen bieten sich? Solchen und ähnlichen Fragen gehen acht verschiedene Autoren nach.

Und wohin führt der Europa-Weg der Schweiz? Diese Frage taucht in verschiedenen Kapiteln auf. Mal konkret, mal mit einer Leerformel wie «die Schweiz braucht eine kluge, selbstbewusste, vorausschauende und die eigenen Möglichkeiten realistisch einschätzende Politik» (Seite 176).

Es wird auch das grösste wirtschaftspolitische Dilemma der Schweiz angesprochen. Die Personenfreizügigkeit nütze der Schweiz mehr als alle anderen Abmachungen mit der EU zusammen, doch ausgerechnet sie stosse am stärksten auf Widerstand. Aus diesem Dilemma könne sich das Land nur befreien, wenn man den Ängsten und dem Unbehagen weiter Teile der Bevölkerung entgegenkomme. Die Autoren machen dazu konkrete Vorschläge, die weitere Debatten verdienen. Sie könnten helfen, aus der Blockade bei den flankierenden Massnahmen herauszufinden.

Wenig ergiebig sind manche ideologische Ausrutscher. So wird gegen die Option EWR-Beitritt das Schreckgespenst «Regulierungsschub» bemüht, ein Pauschalurteil gegen so «böse Dinge» wie die Gleichbehandlung von Frauen und Männer, Arbeitnehmerrechte, Verbraucherschutz oder die Bildung! Oder: Es soll positiv sein, dass die Nationalstaaten in der EU eher wieder an Gewicht gewinnen. Das nehme ihr etwas von ihrer Bedrohlichkeit (Seite 342). Eine ziemlich unbedachte Bemerkung angesichts des neu aufkommenden Nationalismus in Europa. Und was soll der pauschal distanzierende Hinweis auf Seite 272, einleitend zum Kapitel der Gastautoren des «Center for European Policy Studies»? «Die darin geäusserten Standpunkte und Sichtweisen entsprechen nicht denjenigen von Avenir Suisse.» Was soll falsch sein an deren Einschätzungen? Nach der Lektüre dieses kenntnisreichen und nüchtern geschriebenen Kapitels über die «Entwicklungen in der EU und die Auswirkungen auf die Schweiz» kann man sich die Distanzierung durch die Herausgeber nicht erklären.

Solche Ausrutscher tun dem Buch nicht gut. Die Lektüre lohnt sich trotzdem. «Bilateralismus – was sonst?» eignet sich auch als Nachschlagewerk für alle, die über den aktuellen Stand der Beziehungen Schweiz – EU Bescheid wissen wollen.

Patrik Schellenbauer und Gerhard Schwarz (Hrsg.), Bilateralismus – was sonst? Eigenständigkeit trotz Abhängigkeit, NZZ Libro, 2015, 357 Seiten