Lesetipp

Der Verfassungscoup von 1787

von Daniel Brühlmeier | Juni 2017
Die amerikanischen Verfassungsväter von 1787 schufen als Elite völlig unerwartet das dauerndste und wirkungsvollste Dokument der Verfassungsgeschichte. Ihre Arbeit zeigt erstaunliche Parallelen zu heute.

Im heissen Sommer 1787 gelang den amerikanischen Verfassungsvätern in einer strengen Verfassungsklausur die vielleicht grösste Leistung in der Geschichte des demokratischen Verfassungsstaates: Sie redigierten die noch gültige Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika und leiteten sie dem Kontinentalkongress mit der Aufforderung weiter, dieses Dokument spezifischen Konventen in den (damals dreizehn) Gliedstaaten zur «Zustimmung und Ratifikation» vorzulegen. Dem Harvard-Verfassungsrechtler Michael J. Klarman gelingt es in «The Framers’ Coup», den gesamten Prozess von den rechtlichen und politischen Unzulänglichkeiten der Ausgangslage unter den Articles of Confederation, über die Verfassungsgebung und deren Ratifikation bis zum Zusatz einer Bill of Rights erstmals in einem Buch magistral darzustellen. Die Aufmerksamkeit für Prozesse und die Darstellung der Ideen und Argumente aus den Originalquellen – die verschiedenen Berichte über den Verfassungs- und die Ratifikationskonvente sowie eine riesige Fülle von Briefen der Akteure und Flugschriften der Befürworter und Gegner der Verfassung – machen das Buch zu einem unverzichtbaren Standardwerk mit einer Fülle von Bezügen zu aktuellen Ereignissen in den USA «and abroad».

Triumph einer demokratieskeptischen Elite
Trotz bedeutenden formalen Irregularien – insbesondere die bewusste und in manchem revolutionäre Ausdehnung des Auftrags von einer Revision zu einer gänzlichen Neuorganisation des Staates und die Änderung der wichtigsten Spielregel, der staatsvertraglichen Einstimmigkeit, in eine (qualifizierte) Mehrheit für den Beschluss der Verfassung – ist der «Coup» nicht im Sinne eines Staatsstreiches, sondern eines unerwarteten, bravourösen Meisterstücks zu verstehen. Dieses leistete eine ökonomische, politische und Bildungs-Elite, die nicht nur die gravierende politische Handlungsunfähigkeit der Vereinigten Staaten vor 1787 beheben, sondern einer zunehmenden, auf sozialen Missständen beruhenden und populistisch aufgeladenen Demokratisierung entgegenwirken wollte. In der Tat waren verschiedene Staaten unter dem Druck verschuldeter Kleinfarmer und Kriegsveteranen dazu übergegangen, Papiergeld herauszugeben, was massive ökonomische und rechtliche Unsicherheit mit sich brachte.

Nun hatten die Verfassungsgeber von Mai bis September 1787 nicht nur mit äusseren Widerwärtigkeiten und Bedrohungen, sondern sie mussten auch mit einer Fülle von Fronten innerhalb des Gremiums fertig werden. Verschiedene Einzelstaaten waren langsam in der Beschickung der Delegation, so dass das Quorum erst nach zwei Wochen erreicht werden konnte – dann aber zügig und klug der Kriegsheld und Landesvater Washington zum Vorsitzenden ernannt und in einem ersten Bravourstück von drei Delegierten für den nächsten Tag ein sehr effizientes Verhandlungsmanual erstellt wurde (mit dem Sitzungsgeheimnis als wohl wichtigstem Eckstein).

Die aktivsten Delegierten stammten aus dem grössten Gliedstaat Virginia sowie Pennsylvania (insbesondere James Wilson), dazu die beiden Cousins Pinckney aus South Carolina und natürlich Alexander Hamilton, der allerdings wegen der oft zerstrittenen und zuletzt wegen Unterschreitung des Quorums ihres Stimmrechts verlustigen Delegation New Yorks nur zum Reden und Argumentieren verdammt war. Mastermind war aber der kleinwüchsige, kränkelnde und nur passabel redende Madison; er bereitete mit seinen Mitdelegierten aus Virginia den Verfassungskonvent während einer Woche in täglichen Sitzungen vor und koordinierte sich mit den lokalen Vertretern aus Pennsylvania.

Eher retardierend auf die Verfassung wirkten vor allem George Mason aus Virginia, Luther Martin aus Maryland und Elbridge Gerry aus Massachusetts. Sie und weitere sollten später im Ratifikationsprozess das Label der «Antifederalists» aufgebrummt bekommen und zu resoluten Gegnern der Verfassung werden.

Trotz der grossen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Gegensätze – Nord/Süd, kleine/grosse Einzelstaaten, Handel und Industrie/Kleinbauern, Sklaverei – gelang es den Delegierten, in unzähligen Plenar- und Ausschuss-Sitzungen, Abstimmungen und Rückkommensanträgen ein Kompromisswerk zu schaffen, das bis heute Bestand hat und sich durch eine nationale, bundestaatliche Regelung mit enummerierten, aber machtvollen Bundesaufgaben, ein Zweikammersystem mit unterschiedlichen Kompetenzen der beiden Kammern und Gliedstaatengleichheit im Senat, einer indirekt über Elektoren gewählten, aber starken präsidialen Exekutive, einer starken und prägenden Bundesgerichtsbarkeit auszeichnete. Dramatischster Moment in diesem Prozess war die Bestellung des Senats, an dem der ganze Prozess zu scheitern drohte und durch den Connecticut Compromise mirakulös gerettet werden konnte. Madison war in diesem Punkt und in seinem persönlich wichtigsten Anliegen, dem Bundesveto für Gliedstaatengesetze, unterlegen und wie praktisch alle Delegierten mit dem Endprodukt unzufrieden.

Der Ratifikationsprozess stand auf des Messers Schneide. Die antifederalistischen Gegner zweifelten die Legitimation der Verfassung, die «konsolidierte», d.h. zentralistische Regierung, die Steuer- und Vertragsschliessungskompetenz des Bundes, die Präsidentschaft, die beiden Kammern, die Gerichtsverfassung und nicht zuletzt Art. I sect. 10 an, der den Staaten verbot, Papiergeld auszugeben. Die Federalists verteidigten die Verfassung eloquent; sie profitierten vor allem von einer Dominanz in der Presse, die sie mit ihrer Bildungs- und rhetorischen Überlegenheit zu benutzen wussten. Die schnelle Ratifikation in vier kleineren Staaten gab ihnen das Momentum für die entscheidenden und völlig offenen Auseinandersetzungen in Massachusetts und Virginia. Massachusetts konnte knapp gewonnen werden, allerdings mit der Konzession, dass die Zustimmung von Amendments begleitet werden konnten. Virginia war in mancher Hinsicht ein Sonderfall: seine Ratifikation hätte der Verfassung die nötige Mehrheit von neun Staaten gebracht. Hier duellierten sich über drei Wochen die «Titanen» der amerikanischen (Verfassungs)Politik: Madison und der nun zur Verfassung konvertierte Governor Randolph auf der einen, George Mason und der wortgewaltige, sich um alle Formalien foutierende Patrick Henry auf der anderen Seite. Am 25.6. obsiegten die Federalists knapp mit 89 zu 79. Damit veränderte sich der Ratifikationsprozess für die verbleibenden Staaten radikal: Es ging nicht mehr um Zustimmung zur Verfassung und deren politischen Strukturen, sondern nur noch um Mitgliedschaft im Kreise der gegründeten USA.

Parallelen zu heute
Aufgrund der politischen Mächteverhältnisse war die Situation für sie im noch ausstehenden Staat New York eigentlich aussichtslos. Hamilton warb mit Madison (und zu einem kleinen Teil John Jay, der sich in einem Strassenstreit verletzt hatte) unter dem Pseudonym «Publius» ab Oktober 1787 in einer Serie von Zeitungsartikeln, die im März und Mai 1788 in Buchform als «Federalist Papers» herausgegeben wurden. Sie sind von so herausragender Qualität, dass sie zu Recht als Klassiker der politischen Ideengeschichte gelten. Am anderen Ende der intensiven Artikel- und Flugschriftenproduktion wurde in massiver Zahl verdreht, gelogen und beleidigt (der alte und weise Benjamin Franklin schrieb einen echauffierten Artikel über den «Missbrauch der Presse», der allerdings nicht gedruckt wurde). Selbst fake news wurden (auf beiden Seiten) produziert; so stellten die Antifederalists etwa John Jay als Ratifikationsgegner dar.

Aussenpolitische Widerwärtigkeiten
Verfassungsgebung geschieht oft unter Einflüssen von aussen. Wie wir aus der Schweiz von 1848 wissen, können aussenpolitische Blockaden die inneren Parteien einigen und damit die Verfassungsgebung begünstigen. Oder die Bundesrepublik schuf ihr Grundgesetz 1948/9 nur unter gütigem Druck der westlichen Alliierten. Im amerikanischen Fall war dies geradezu umgekehrt: die (letztlich gescheiterten) Verhandlungen des Secretary for Foreign Affairs John Jay mit Spanien legten einen mächtigen, immer wieder hervortretenden Spaltpilz zwischen Nord und Süd. Angedacht war eine Aufgabe der amerikanischen Navigationsrechte auf dem Mississippi zugunsten eines Handelsvertrags, der die Küstenstädte des Nordens bevorteilt hätte.

Fast noch bedrohlicher für den konstitutionellen Einigungsprozess war, dass vor allem die Südstaaten mehrmals mit Sezession und dem Zusammengehen mit fremden Staaten drohten. Die Amerikaner haben also die Verfassung gegen starke äussere Unbill geschaffen. Das macht ihre Leistung noch ausserordentlicher.

Michael J. Klarman: The Framers' Coup. The Making of the United States Constitution, Oxford: O.U.P. 2016, 865 S., $ 39.95