Kolumne

Die SVP und unsere demokratischen Regeln

von Ulrich E. Gut | Oktober 2015
Wie hält es die SVP mit den Grundregeln der Schweizer Demokratie? Die Frage drängt sich auf, nachdem ihr Präsident den Bundesrat aufgefordert hat, nach Zustandekommen der «Selbstbestimmungs-Initiative» die Verhandlungen mit der EU zu stoppen.

SVP-Parteipräsident Toni Brunner fordert laut «NZZ am Sonntag» vom 4. Oktober 2015, dass der Bundesrat spätestens nach der Einreichung der Volksinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungsinitiative)» Anfang 2016 die Verhandlungen über einen neuen institutionellen Rahmen für die bilateralen Verträge stoppt: «Das Volk soll zuerst zu unserer Initiative Stellung nehmen. Vorher ist es nicht angezeigt, weiter über automatische Rechtsübernahme und die Unterstellung unter den Europäischen Gerichtshof zu verhandeln.»

Einerseits bestätigt Brunners Stellungnahme, dass die «Selbstbestimmungsinitiative» mindestens ebenso europapolitisch wie grundrechtspolitisch ist: Sie richtet sich gegen den EU-Gerichtshof in Luxemburg, in dem die Schweiz nicht vertreten ist und dessen Trägerschaft, der EU, sie nicht angehört. Sie richtet sich aber auch gegen den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg, in dem die Schweiz vertreten und in dessen Trägerschaft, dem Europarat, die Schweiz Mitglied ist.

Anderseits gibt Brunner erneut zu erkennen, dass sich die SVP mit der schweizerischen Demokratie, wie sie in der Bundesverfassung durch Volk und Stände geregelt ist, nicht abfinden will. Die Bundesverfassung sieht keine Vorwirkung von Volksinitiativen vor. Eine Vorwirkung gäbe Initianten die Macht, bestehendes materielles Recht sowie die verfassungsmässigen Rechte und Pflichten der Gewählten in Parlament und Bundesrat ausser Kraft zu setzen, bevor die Initiative beraten ist und Volk und Stände darüber abgestimmt haben.

Am 17. Juni 2012 wurde die Staatsvertragsinitiative der AUNS mit Dreiviertelsmehr des Volkes und sämtlichen Ständestimmen abgelehnt (http://www.nzz.ch/schweiz/abfuhr-fuer-die-auns-initiative-1.17250496). Nun verlangt die SVP mit der «Selbstbestimmungsinitiative», dass die Verträge, die nicht dem Referendum unterstanden, rückwirkend für unmassgeblich erklärt werden. Damit missachtet sie den Volkswillen, der im Nein zur Staatsvertragsinitiative zum Ausdruck kam. Denn gemäss der «Selbstbestimmungsinitiative» müssten alle internationalen Vereinbarungen dem Referendum unterstellt werden, wenn sie nach dem neuen Artikel 190 BV beachtlich sein sollen. Sie statuiert in Art. 190: «Bundesgesetze und völkerrechtliche Verträge, deren Genehmigungsbeschluss dem Referendum unterstanden hat, sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend.»

Die Radikalität dieser Revisionsforderung wird deutlich, wenn man sie dem heutigen Art. 190 gegenübersteht, der lautet: «Bundesgesetze und Völkerrecht sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend.»

Die Selbstbestimmungsinitiative geht sogar weiter als die Staatsvertragsinitiative, denn die Staatvertragsinitiative forderte das Referendum für bestimmte Kategorien internationaler Vereinbarungen, während die «Selbstbestimmungsinitiative» unterschiedslos sämtlichen Verträgen die Beachtlichkeit entzieht, die nicht dem Referendum unterstanden. Sie würde genau zu jener masslosen Überbeanspruchung der Stimmberechtigten führen, welche diese vor erst gut drei Jahren in kluger Selbstbeschränkung überraschend deutlich verwarfen.

Dass sich die Führung der SVP mit der verfassungsmässigen schweizerischen Demokratie und mit missliebigen Volksentscheiden nicht mehr abfinden will, zeigt sich demnächst wohl erneut am Beispiel der Volksinitiative für die Volkswahl des Bundesrates. Diese wurde am 9. Juni 2013 noch etwas wuchtiger abgelehnt als die Staatsvertragsinitiative (http://www.nzz.ch/schweiz/ueberdeutliche-ablehnung-1.18096112)

Dies wird die Partei nicht daran hindern, das Ergebnis der Parlamentswahlen vom kommenden 18. Oktober 2015 in einen Volksentscheid über die Zusammensetzung des Bundesrates umzudeuten. Doch die Bundesverfassung gibt der Bundesversammlung für die Bundesratswahl sowohl bezüglich der Parteienzusammensetzung als auch der zu wählenden Personen das Recht und die Pflicht zur freien Entscheidung.