Kolumne

Einseitige Schutzklausel – kein guter Ansatz

von Thomas Cottier | Dezember 2015
Der Bundesrat hat seine bislang klare Linie für die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative (Art. 121a BV) aufgegeben. Am 2. Dezember 2015 beschloss er, notfalls einseitig eine Schutzklausel ins Auge zu fassen, sollten die Verhandlungen mit der EU keine Fortschritte bringen. Die Modalitäten bleiben vorerst im Dunkeln. Er gefährdet damit unnötig die bilateralen Verträge und sollte anstelle den Spielraum des Freizügigkeitsabkommens nutzen.

Unklar ist, ob für die Schutzklausel eine Gesetzesbestimmung, eine Verordnung oder allenfalls lediglich eine entsprechende Praxis gestützt auf notrechtliche Kompetenzen der Verfassung vorgesehen ist. Unklar ist vor allem, ob sich diese Massnahmen an das Freizügigkeitsabkommen halten oder darüber hinausgehen sollen.

Klare Rechtslage

Nichts geändert hat dieser Kurswechsel an der klaren Rechtslage. Solange das Freizügigkeitsabkommen im Rahmen des Paketes der Bilateralen I in Kraft steht und daran festgehalten wird, geht der Vertrag nach schweizerischem Recht dem Landesrecht und damit auch Art. 121a BV vor. Schutzmassnahmen müssen sich daher im Rahmen des Vertrages bewegen. Die Rahmenbedingungen dazu sind in Art. 14 Abs. 2 FZA festgelegt. Die Bestimmung lautet wie folgt:

Bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen tritt der Gemischte Ausschuss auf Verlangen einer Vertragspartei zusammen, um geeignete Abhilfemassnahmen zu prüfen. Der Gemischte Ausschuss kann innerhalb von 60 Tagen nach dem Antrag über die zu ergreifenden Massnahmen beschliessen. Diese Frist kann der Gemischte Ausschuss verlängern. Diese Massnahmen sind in Umfang und Dauer auf das zur Abhilfe erforderliche Mindestmass zu beschränken. Es sind solche Massnahmen zu wählen, die das Funktionieren dieses Abkommens so wenig wie möglich beeinträchtigen.

Im Rahmen dieser Bestimmung kann der Bundesrat die Einwanderung steuern bei wirtschaftlichen Einbrüchen und Arbeitslosigkeit, auch in einzelnen Landesteilen und Branchen. Die Vorschrift ist zugeschnitten auf Massnahmen ex post factum, und nicht für prospektive Regeln, schon gar nicht für mathematische Subsumptionen. Die Entscheidungen müssen auf Grund einer besonderen Lage getroffen werden.

Eine Umsetzung von Art. 121a BV lässt sich damit nicht realisieren, solange sich eine eigentliche Krisenlage nicht abzeichnet. Gleichwohl öffnet die Bestimmung die Möglichkeit, auf vorhandene Ängste einzugehen und Massnahmen gegen mögliche Fehlentwicklungen in Zukunft in Aussicht zu stellen. Neben Beschränkungen der Personenfreizügigkeit auf individueller Basis können hier notfalls auch umfangreichere Beschränkungen ins Auge gefasst werden. Es genügt, wenn der Bundesrat angemessene Massnahmen unter Berufung auf diese Bestimmung in Aussicht stellt und Massnahmen nach der erforderlichen Konsultation mit der Kommission trifft.

Diese Massnahmen sind primär einvernehmlich zu treffen; sie schliessen aber meines Erachtens einseitige Massnahmen im Falle fehlender Einigung mit der EU Kommission nicht aus. Denn jede Vertragspartei legt den Vertrag auf ihre Art autonom aus. Das gilt jedenfalls bis zum Inkrafttreten eines institutionellen Abkommens. Vielmehr werden angenommene und umgesetzte Massnahmen – wie im Bereich der Holdingsteuern im Rahmen des Freihandelsabkommens – Gegenstand von Diskussionen sein. Und bevor die EU zur Aussetzung des Vertrages schreitet, ist die Krise möglicherweise schon vorbei und man kann zur Normalität zurückkehren.

Verzicht auf prospektive Massnahmen

Die Voraussetzungen für Art. 14 Abs. 2 FZA liegen heute objektiv nicht vor, insbesondere im europäischen Vergleich. Tiefe Arbeitslosigkeit und geringe Missbräuche von Sozialleistungen machen die Einwanderungsangst zu einer eingebildeten Krankheit und einer von Ideologien und nicht wirklich praktischen Problemen dominierten Diskussion. Das ist mit ein Grund, weshalb sich die Kommission und die Mitgliedstaaten nicht auf eine Verhandlung einlassen.

Gehen Bundesrat oder Parlament über die Bestimmung von Art. 14 Abs. 2 FZA hinaus, wird dies seitens der EU als Vertragsbruch beurteilt; sie muss nicht auf eine konkrete Umsetzung und erste Fälle warten und kann den Vertrag gestützt auf den Erlass ganz oder teilweise aussetzen, ohne ihn zu kündigen. Die Schweizer Gerichte müssten den Vorrang des Vertrages an sich schützen, werden aber wohl bei einem bewussten Abweichen seitens des Gesetzgebers davon absehen. Diese Rechtslage wird die Kommission präventiv zu einer frühzeitigen Reaktion mit möglichen Gegenmassnahmen zwingen.

Zurück zu klaren Linien

Es ist wichtig, in der Debatte auf die Möglichkeit einseitiger Massnahmen im Rahmen von Art. 14 Abs. 2 FZA hinzuweisen und den Willen zu bekräftigen, die Bestimmung in künftigen Krisen auch anzuwenden. Diese Möglichkeit ist vermehrt zu betonen. Eine explizite und prospektive Schutzklausel indessen gefährdet die bilateralen Verträge an sich und setzt die Schweiz unnötigerweise der Gefahr von wirtschaftlichen Retorsionen (nicht nur im Bereich der Freizügigkeit) aus.

Der Bundesrat hält daher besser an seiner bisherigen Umsetzungsstrategie fest und berücksichtigt das Potential von Art. 14 Abs. 2 des Abkommens. Er erfüllt seine verfassungsrechtlichen Verhandlungspflichten auch dann, wenn die EU an ihrem Standpunkt festhält und die Verträge tel quel und unverändert in Kraft bleiben und sich seine Vorschläge für künftige Schutzmassnahmen im Rahmen des geltenden völkerrechtlichen Rahmens bewegen.

Nach wie vor gilt, dass Art. 121a BV dort umgesetzt werden muss, wo Spielräume und Entwicklungsmöglichkeiten wirklich bestehen: in der Raum- und Städteplanung, der Verkehrspolitik, dem Wohnungsbau, der Gleichstellung und Bildungspolitik. Die Arbeitgeber und Unternehmungen haben es sodann in der Hand, mit einer ausgeglichenen Personalpolitik zur Entspannung beizutragen und Ängste abzubauen, so dass hoffentlich ein Rekurs auf Art. 14 Abs. 2 FZA dereinst nicht erforderlich sein wird.