Lesetipp

Einspruch gegen die Instrumentalisierung unserer Geschichte

von Rudolf Wyder, Vizepräsident sga-aspe | April 2015
Thomas Maissen legt mit «Schweizer Heldengeschichten – und was dahinter steckt» die prekäre Faktenlage unserer heimeligen Geschichtsbilder bloss. Er erhebt zugleich Einspruch gegen deren Instrumentalisierung durch die Politik.

Ob die Schweiz mit ihren Heldengeschichten ein Sonderfall ist, mag offenbleiben. Tatsache ist, dass die Schweizergeschichte vor Mythen strotzt. Rütlischwur, Tells Apfelschuss, Winkelrieds «Sorget für mein Weib und Kind!», Marignano als Ursprung der Neutralität, die alte Eidgenossenschaft als Hort der Demokratie, ein einzig Volk von Brüdern, Schweizergeschichte als permanenter Unabhängigkeitskampf… Gemeinsam ist diesen heimeligen Bildern, dass es sich um nachträgliche Mythenbildungen auf prekärer Faktenbasis handelt.

Unter literarischen Gesichtspunkten könnte man es auf sich beruhen lassen. Die Geschichten sind eingängig, erbaulich, schmeichelhaft. Und jede Gemeinschaft braucht ihre identitätsstiftenden Erzählungen. Aber der Historiker darf sich nicht mit Geschichten zufrieden geben. Er ist der Geschichte, wie sie aus den Quellen spricht, verpflichtet. Sein Auftrag ist es, Fakten von tradierten Imaginationen zu scheiden. Allerdings darf, wer an populäre Mythen rührt und sie an den verbürgten Fakten misst, nicht mit eitel Applaus rechnen. Nicht nur stört er Vertrautes. Er deckt auch absichtsvolle Kolportage auf. Geschichtenerzähler werden ihm womöglich Hintergedanken unterstellen. Als hätten gerade jene, die Mythen zelebrieren, keine solchen...

Die Schweiz durchlebt ein Jahr der Jubiläen: Morgarten 1315, Marignano 1515, Wien 1815. Wer will, kann auch noch die Eroberung des Aargaus 1415 dazu nehmen. Und im kommenden Jahr steht dann «la paix perpétuelle» mit Frankreich von 1516 an, Grundlage für die Jahrhunderte währende Soldallianz und Anlehnung an den übermächtigen westlichen Nachbarn. Aber das passt schon nicht mehr in jedermanns Geschichtsbild.

Pointiert, aber nicht polemisch

Verpasste Chancen wären es, würden Jubiläen nicht dazu genutzt, Überlieferung neu zu sichten und auf ihre Relevanz für die Jetztzeit zu befragen. Thomas Maissen unterzieht sich verdienstvollerweise dieser Aufgabe. Fulminant, aber keineswegs in der Attitüde des Bilderstürmers. Pointiert, aber ohne zu polemisieren.

Maissens Übungsanlage ist plakativ: Jedem Kapitel stellt er eine Aussage alt Bundesrat Blochers oder Bundesrat Maurers voran. Anschliessend konfrontiert er das Zitat mit dem aktuellen Forschungsstand. Sachlich argumentierend und ohne Zensuren auszuteilen. Die Gegenüberstellung spricht für sich.

Akademische Rechthaberei ist nicht Sache des Autors. Die Angelegenheit ist weit ernster. Es geht darum, welche Lektionen mithilfe historischer Bilder transportiert werden. Und da sind in jüngster Zeit so etwas wie Trampelpfade entstanden, ja vielleicht absichtsvoll angelegt worden. Und diese zeitigen zunehmend politische Wirkung. Solche das Denken kanalisierende, blockierende Vorstellungen zu hinterfragen, ist Aufgabe des Historikers.

Marignano als Ausgangspunkt der Neutralität? Schwerlich. Im Jahr darauf banden sich die uneinigen Kantone in einem «Ewigen Frieden» an Frankreich, das daraufhin für drei Jahrhunderte als Schutzmacht und Schlichter amtete, weitgehende Handelsprivilegien gewährte und im Gegenzug zuhauf junge Männer rekrutierte, die in der Heimat kein Auskommen fanden.

Die Schweizergeschichte als steter Abwehrkrieg gegen böse Nachbarn? Keineswegs. Es ist eine Geschichte der Wechselwirkungen, des permanenten Austauschs, ohne den das Land immer noch bettelarm wäre, eine Geschichte von Geben und Nehmen, der Ein- und Auswanderung, der Nutzung von Freiräumen, der Optimierung derselben, ohne die das eidgenössische Konglomerat nicht überlebt hätte. Im Vakuum wäre die Schweiz längst erstickt.

Die Geschichte der Schweiz als kontinuierlicher, zielgerichteter Prozess vom Rütlischwur über sukzessive Erweiterungen zur Gründung des Bundesstaates und zur Verfassung von 2000? Alles andere. Eine Geschichte politischer und religiöser Zerrissenheit, eine Folge von Krisen, die von Zeit zu Zeit in Bürgerkriege münden, welche oft genug durch externe Intervention beendet werden müssen.

Und wie steht es um die heute relevanten Wurzeln unseres Staatswesens? Die keineswegs einfache Geburt des schweizerischen Bundesstaates, ein radikaler Kraftakt, eine konstitutionelle Revolution par excellence, nimmt im historischen Bewusstsein unserer Nation noch immer nicht den ihr gebührenden Platz ein.

Geschichte und aktuelle Politik

Maissens Demonstration ist brillant – und nötig! Denn die Vorstellung von der geschichtlichen Identität eröffnet oder versperrt Perspektiven und politische Handlungsspielräume. Ein Sonderfall zu sein, kann jedes Land beanspruchen. Die Frage ist, mit welchen Inhalten man diesen füllt. Wenn die Schweiz, so Maissen, «die künftigen Aufgaben nicht als Partner von ähnlich verfassten Staaten und mit ähnlichen Grundanliegen verfolgen will, dann werden die Schweizer noch oft darüber staunen, dass Aussenstehende den Sonderfall nur im absonderlichen Appetit auf Extrawürste und gepickte Rosinen erkennen».

Falsch liegt, wer die «Heldengeschichten» als Teil eines Historikerstreits auffasst. Die Fachwelt ist sich weitgehend einig. Was Maissen vorlegt, ist ein historiographischer Einspruch gegen die immer dreistere und erfolgreiche Instrumentalisierung angeblicher Geschichte durch die Politik.

Thomas Maissen, Schweizer Heldengeschichten – und was dahintersteckt, Baden 2015, 240 Seiten, CHF 29.90.