Kolumne

Historische Fakten gegen politische Rechthaberei

von Daniel Brühlmeier | April 2015
Wiener Kongress 1815 und die Schweiz. Was war da wirklich? Die Frage eignet sich für eine wissenschaftlich fundierte Kontroverse, nicht aber für parteipolitische Rechthaberei.

Im Auftrag des Regierungsrates veranstaltete ich einen Festanlass zu «Zürich und der Wiener Kongress». Anlass war die 200. Wiederkehr der Erklärung über die Angelegenheiten der Schweiz vom 20. März 1815. In dieser hielten die Acht Mächte die immerwährende Neutralität der Schweiz fest, sicherten die Integrität der 19 Kantone der Mediationszeit und gliederten die neuen Kantone Wallis, Neuenburg und Genf der Schweiz an. Ein interessantes Ereignis, wie mir und dem Regierungsrat schien, und auch eines, bei dem die Rolle Zürichs vertieft beleuchtet werden sollte.

Dazu gab es ein wissenschaftliches Kolloquium, in welchem fünf Experten verschiedenste Aspekte der Erklärung zur Schweiz beleuchteten. Während Julia Angster die grossen Zusammenhänge der territorialen und strukturellen Neuordnung Europas durch ein neues System des Mächtekonzerts herausarbeitete, skizzierte Paul Widmer die diplomatische Knochenarbeit und die bleibenden Errungenschaften daraus: Kommissionen, Konferenzen und die Schaffung der Diplomatie als spezifische Berufsgattung. Erwartungsgemäss gab es im Kolloquium kontroverse Themen, etwa wenn Jakob Tanner und Paul Widmer auf hohem Niveau über die Rolle der Neutralität im Schweizer Verhandlungsmandat stritten: deren Stellenwert, ja gar deren Natur ist in der Tat nicht klar auszumachen, sonst wären ja auch nicht Schweizer Truppen noch nach ihrer Gewährung im Juli 1815 ins Burgund eingefallen. Kontrovers blieb auch, ob Metternich bereit war, das Potential der Schweizer Demokratie überhaupt zu verstehen, oder ob er «kognitiv-konzeptionell beschränkt», aber ehrlich darin nur Pöbel, Fäulnis und Chaos ersehen konnte.

Zum Glück gezwungen
Der Zürcher Verfassungsrechtler und –historiker Kley zeigte schonungslos auf, dass die zerstrittenen, sich am Rande zum Bürgerkrieg bewegenden Schweizer Kantone am Wiener Kongress von den «Puissances intervenantes» zu ihrem Glück gezwungen werden mussten und die gewünschte Neutralität nur erhielten, weil sie sich zur inneren Befriedung durch den Bundesvertrag und das Akzeptieren der Erklärung zur Schweiz bereit erklärten. Markus Brühlmeier konnte aufzeigen, dass Zürich als Vorort der Eidgenossenschaft, allen voran dessen langjähriger Bürgermeister Hans von Reinhard, bei der Langen Tagsatzung und mit der Leitung der Delegation in Wien durchaus eine wichtige Führungs- und Vermittlerrolle zukam. Reinhard, der bisher eher als aristokratischer Zauderer gegolten hatte, der «Angst hatte, er könnte in einem Wasserglas ertrinken», wurde von Widmer attestiert, dass er die diplomatischen «essentials» in Wien geleistet hatte, wenn auch klar wurde, in welcher prekärer Situation er sich dort befunden hatte. Als er sich mit dem britischen Botschafter zur Heimfahrt in die Kutsche setzte, wusste er noch nichts über das Ergebnis der Erklärung und musste sich von ihm ins Bild setzen lassen.

Schon im Vorfeld dieses wissenschaftlichen Kolloquiums und des anschliessenden Festvortrags, den alt Bundesrat Moritz Leuenberger witzig und fundiert zugleich zum Thema und darüber hinaus präsentierte, glaubte die Weltwoche als erweitertes Kampfblatt der SVP solches als «sozialdemokratische Zweihundertjahrfeier der Neutralitätserklärung» abtun zu müssen. Der Medizinhistoriker und Weltwoche-Kolumnist Christoph Mörgeli und sein Chefredaktor Roger Köppel benutzen landauf, landab im Verein mit ihrem grossen Vorbild Christoph Blocher ihre Wahlkampf-Weihestunden zur Neutralität, um unsere ach so unfähigen Diplomaten und aussenpolitisch so hyperaktiven Bundesräte als Landesverräter zu diffamieren. Da konnten und wollten wir nicht mithalten.

Im Vordergrund muss in der Auseinandersetzung um die Schweizer Geschichte stehen, «wie es eigentlich gewesen ist», und das gilt sowohl für die grosse Geschichte sowie für die kleine des hier geschilderten 20. März 2015. Es darf nicht sein, dass Geschichte von der wahlpolitischen Agenda vereinnahmt wird und Fakten auf parteipolitische Rechthaberei zurechtgebogen werden.