Kolumne

Mehr demokratische Legitimation für Staatsverträge?

von Ulrich Gut | Oktober 2016
Gibt es Klärungsbedarf beim Verhältnis von Völker- und Landesrecht und braucht es folglich einen Gegenvorschlag zur Anti-Menschenrechtsinitiative der SVP?

Derzeit erleben wir Versuche der Delegitimierung völkerrechtlicher Verpflichtungen. So wird die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) in Frage gestellt, weil sie 1974 nicht referendumspflichtig war. Gemäss der Initiative «Schweizer Recht statt fremde Richter» sollen gar nur noch «völkerrechtliche Verträge, deren Genehmigungsbeschluss dem Referendum unterstanden hat», «für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend» sein. Während die Bilateralen (inklusive Personenfreizügigkeit) mit dieser Verfassungsänderung für die Gerichte massgebend blieben, solange sie nicht gekündigt werden, wäre dies für die EMRK und andere Staatsverträge, die nicht dem Referendum unterstanden, nicht mehr der Fall.

Klar ist: Wenn die Schweiz einen Vertrag nicht mehr einhalten will, bleibt sie daran gebunden, bis sie ihn neu ausgehandelt oder gekündigt hat. Es gilt das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge.

Art. 27: «Eine Vertragspartei kann sich nicht auf ihr innerstaatliches Recht berufen, um die Nichterfüllung eines Vertrags zu rechtfertigen.»

Artikel 46:
«(1) Ein Staat kann sich nicht darauf berufen, dass seine Zustimmung, durch einen Vertrag gebunden zu sein, unter Verletzung einer Bestimmung seines innerstaatlichen Rechts über die Zuständigkeit zum Abschluss von Verträgen ausgedrückt wurde und daher ungültig sei, sofern nicht die Verletzung offenkundig war und eine innerstaatliche Rechtsvorschrift von grundlegender Bedeutung betraf.

(2) Eine Verletzung ist offenkundig, wenn sie für jeden Staat, der sich hierbei im Einklang mit der allgemeinen Übung und nach Treu und Glauben verhält objektiv erkennbar ist.»

Die Angriffe auf die EMRK bewog Ständerat Hans Stöckli (SP, Bern) 2013, den Bundesrat zur Prüfung aufzufordern, «ob die EMRK nachträglich einem obligatorischen Referendum unterstellt werden sollte». Der Bundesrat hielt es für «fraglich, ob die Durchführung eines nachträglichen Referendums über den Beitritt zur EMRK oder über den Verbleib der Schweiz im Europarat ohne ausdrückliche Grundlage in der Bundesverfassung überhaupt zulässig ist. (…) Die materiellen Garantien der EMRK und der Zusatzprotokolle im Rahmen der Nachführung der Bundesverfassung» seien «in die heutige Bundesverfassung übernommen worden. Insofern haben sie zumindest indirekt eine demokratische Legitimation durch Volk und Stände erhalten. Die gegenwärtige Kritik an der EMRK zielt darüber hinaus der Sache nach auch auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), mithin auf den Kontrollmechanismus der EMRK. Dessen heutige Ausgestaltung geht im Wesentlichen zurück auf die grundlegende Reform durch die Protokolle Nr. 11 und Nr. 14 (vgl. Ziff. 2.2 hiervor). (…) Die Genehmigung des Protokolls Nr. 14 (unterstand) aufgrund der geänderten Verfassungslage dem Referendum. (…) Die EMRK verfügt nach dem Gesagten also über eine starke, auch direktdemokratische Legitimation.»

Beide Räte überwiesen sodann eine Motion von Andrea Caroni (FDP-Liberale, AR) für ein «Obligatorisches Referendum für völkerrechtliche Verträge mit verfassungsmässigem Charakter». Caroni begründete sie so:

«Das heutige obligatorische Referendum (Art. 140 der Bundesverfassung) weist eine Lücke auf: Während ihm Verfassungsänderungen (Landesrecht) unterstehen und in der Folge von Volk und Ständen legitimiert werden, gilt das nicht für internationale Verträge (Völkerrecht), die materiell auch verfassungsmässigen Charakter haben. (…) Die demokratische Mitsprache würde durch ein obligatorisches Referendum für diese wichtigen Verträge gestärkt. Gleichzeitig würde dank stärkerer Legitimierung auch das für die Schweiz wichtige Völkerrecht innerstaatlich gestärkt.»

Der Bundesrat bezeichnete die Frage als zentral, «wann ein völkerrechtlicher Vertrag «verfassungsmässigen Charakter» hat. Es muss sich (…) um Angelegenheiten von besonderer und grundlegender Bedeutung handeln. Dazu gehören namentlich Normen, welche Grundrechte garantieren oder wichtige Grundzüge der Behördenorganisation regeln.»

Alt-Bundesrichter Niccolò Raselli wendet sich in einem Artikel, der am 27.9.2016 bei www.Unser-Recht.ch veröffentlicht wurde, gegen diese Motion: Er bezeichnete es als «illusorisch (…) zu glauben, mit einer anderen, auf formellen Kriterien gründenden Lösung seien alle künftigen Konflikte ein für allemal aus der Welt zu schaffen.» Und weiter: «Die vorgeschlagene Lösung würde mehr Fragen aufwerfen als lösen. Gegen politische Manipulationen wäre sie nicht gefeit und hinsichtlich bestehender und künftiger Vertragspartner würde sie fatale Signale aussenden.» Denn diese könnten vermuten, dass die Schweiz nur noch Verträge, die dem obligatorischen Referendum unterstellt waren, als verbindlich betrachte.

«Was würde für die EMRK gelten (…)? Was würde für den UNO-Pakt II gelten, der «nur» (aber immerhin) dem fakultativen Referendum unterstand? (…) Eine Parlamentsmehrheit hätte es in der Hand, bestimmte Staatsverträge, auch einen Menschenrechte gewährleistenden Staatsvertrag, von Beginn an zu schwächen, indem er nur dem fakultativen Referendum unterstellt würde. (…)»

Die Umsetzung der Motion Caroni führt nicht zwingend weg von der Vertragstreue. Aber die Beratung muss auf Rasellis Einwände eingehen. Erst danach kann entschieden werden, ob der Gang dieses Wegs zu verantworten ist.

Zum Autor: Ulrich Gut, Dr. iur., Küsnacht ZH, Der Autor ist Präsident des Vereins «Unser Recht», veröffentlicht diesen Artikel aber als persönliche Stellungnahme.