Kolumne

Migration und Entwicklung – verwirrende Diskurse

von Christoph Wehrli | September 2016
Migration ist zu einem wichtigen Thema der Debatte um die Entwicklungshilfe geworden. Hinter der Annäherung der beiden Politikbereiche stecken widersprüchliche Vorstellungen, die nach einer Klärung rufen.

229 Mal findet sich in der Botschaft des Bundesrats über die Internationale Zusammenarbeit (IZA) 2017 – 2020 das Wort «Migration». Das ist insofern nicht erstaunlich, als Süd-Nord-Wanderungsbewegungen als Folge von Instabilität und wirtschaftlicher Aussichtslosigkeit gelten, denen die Friedensförderung und die Entwicklungshilfe entgegenwirken sollen. Und angesichts des gegenwärtigen Rechtfertigungsdrucks liegt der Verweis auf ein manifestes Eigeninteresse an der IZA nahe. Doch lange hatten sich Fachleute und Organisationen dagegen gewehrt, dass die Entwicklungszusammenarbeit (auch) zur Lösung der asylpolitischen Probleme der Schweiz statt (nur) den armen Ländern dienen solle. Auch sind die Wirkungszusammenhänge nicht immer so einfach, wie man sie etwa im Fall der humanitären Hilfe an Flüchtlinge zu erkennen glaubt, die dadurch in der Nähe ihrer Herkunftsregionen aufgefangen werden. Es sind nicht die Allerärmsten, die auf Arbeitsuche nach Europa gelangen. Entwicklung heisst ja auch Aufbruch aus der gegebenen Situation.

Druck zur Ursachenbekämpfung
Der politische Wille hat sich indessen bei der Beratung der Rahmenkredite klar manifestiert: Nach dem Beschluss des Nationalrats nehmen die Programme und Projekte «wenn immer möglich Elemente der Migrationspolitik auf», oder es müssen, wie es die Ständeratskommission formuliert, «Konflikt- und Migrationsursachen bearbeitet» werden. Bundesrat Didier Burkhalter versicherte, man verwende bereits 20 Prozent der Mittel für Aufgaben im Zusammenhang mit unfreiwilliger Migration, also für Prävention und Schutz. Solche Aussagen scheinen genügend vorsichtig zu sein. Die «Doktrin» ist allerdings nicht so eindeutig, wie man meinen könnte.

In der Botschaft steht ohne weitere Erklärungen, die IZA beuge «bedürfnisbedingter Migration» vor. Wie beispielsweise der Klimawandel oder Probleme der Ernährungssicherheit erscheint die Migration unter den «globalen Risiken», welche «die Existenzgrundlagen der Ärmsten und die Entwicklungsperspektiven vieler Länder in immer grösserem Masse beeinträchtigen» würden. Im gleichen Text wird sie aber kommentarlos ebenso als «wichtiger Entwicklungsfaktor» bezeichnet. Diese positive Sicht entspricht einer allgemeinen Tendenz in der internationalen Diskussion, an der die Schweiz engagiert mitwirkt. Die Migration soll allerdings «geordnet, sicher, regulär und verantwortungsvoll» erfolgen – so lauten jedenfalls die Adjektive (im Kontrast zu verbreiteten Realitäten) in einem der Uno-Ziele nachhaltiger Entwicklung (SDG). In diesem Sinn unterstützt die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) zum Beispiel ein Beratungsangebot in Sri Lanka, das Migrantinnen und Migranten vor Ausbeutung in den Golfstaaten bewahren soll.

Mobilität oder Abwanderung?
Inwiefern aber soll Migration «ein Motor der Entwicklung» sein? Häufig wird auf zwei Wirkungen verwiesen. Zum einen kämen die im Ausland erworbenen Fähigkeiten und Erfahrungen später dem Herkunftsland zugute. Vorausgesetzt werden also eine Qualifizierung und eine anschliessende Rückkehr. Aber nur im günstigsten Fall dürfte beides erfolgen; oft verliert das Ursprungsland initiative Menschen, für deren Grundbildung es aufgekommen ist. Zum andern wird angeführt, die Überweisungen der Wanderarbeiter und -arbeiterinnen an die zurückgebliebenen Angehörigen seien nicht nur eine wichtige Lebensgrundlage für die Familien, sondern insgesamt auch von volkswirtschaftlichem Gewicht. «Entwicklung», etwa die Schaffung neuer Erwerbsmöglichkeiten und zivilgesellschaftlicher Strukturen, wird dadurch aber eher unterlaufen als gefördert. Zu bedenken sind zudem soziale Aspekte wie beispielsweise vaterlos aufwachsende Kinder. Daher wirkt die Haltung, die besonders im Deza-Globalprogramm Migration vertreten wird, zu unkritisch. Ganz abgesehen davon steht sie in krassem Gegensatz zur Einwanderungspolitik der Schweiz selber, die gegenüber Arbeitskräften aus Entwicklungsländern recht restriktiv ist.

Fazit: Die Widersprüche und Beschönigungen im Diskurs über «Migration und Entwicklung» bedürfen der Klärung. Falsche Erwartungen schaden der Glaubwürdigkeit, und Glaubwürdigkeit ist für die Entwicklungspolitik angesichts pauschaler Kritik und finanzpolitischen Drucks nötiger denn je.