Neuartige Staatlichkeit – Ziel für die gefährdete EU

von Christoph Wehrli | Mai 2018
Die Entstehung der modernen Eidgenossenschaft bietet Anregungen für die Teilung der Souveränität auf europäischer Ebene. Umso mehr sollte die Schweiz die Krise der EU nicht teilnahmslos betrachten. Dies war der Tenor einer Diskussion über Gret Hallers Buch «Europa als Ort der Freiheit».

Die innere Distanz der politischen Schweiz zur europäischen Integration scheint grösser geworden zu sein, obwohl die Krise der EU das Land in deren Mitte nicht gleichgültig lassen kann. Mit ihrem Buch über Wege zu neuen Formen der Staatlichkeit zieht SGA-Präsidentin Gret Haller in die andere Richtung. Und dies zeichnete auch die Aussenpolitische Aula im Palais de Rumine in Lausanne aus, die erste, zusammen mit der Fondation Jean Monnet pour l’Europe durchgeführte, Veranstaltung dieser Art in der Westschweiz.

Geteilte, gesicherte Souveränität

Der zentrale Begriff in Gret Hallers Buch, das sie zusammenfassend präsentierte, ist die politische Individualisierung. Sie bedeutet die Geburt des Staatsbürgers, der von der Bindung an Herkunftsmerkmale ständischer, religiöser oder anderer Art befreit und allein durch die Existenz auf einem Territorium bestimmt ist. Gleichzeitig wendet sich die Orientierung auf die Zukunft hin; diese wird von den (Mit-)Bürgern in gemeinsamer Diskussion mitgestaltet. Der Nationalismus, die Fixierung auf eine herkunftsbedingte, möglichst rein zu haltende Gemeinschaft, sei daher ein Verrat an der Ende des 18. Jahrhunderts entstandenen Nationalstaatsidee.

In der Schweiz kam es noch zu einer zweiten Entwicklung, die als Weg zu einer neuen Form der Staatlichkeit von Interesse ist: Die Kantone teilten ihre Souveränität mit dem Bund, der diese wiederum in seinem Rahmen garantiert. Durch den Schutz der Autonomie und die Bündelung der Kräfte ergab sich ein Gewinn an Souveränität, wie es Denis de Rougemont 1965 deutlich herausgearbeitet hat. Jene Schrift trug in der deutschen Fassung den Titel: «Die Schweiz. Modell Europas». Gret Haller publiziert Auszüge daraus (sowie einen Text von Alfred Kölz, der «Anregungen» aus der schweizerischen Verfassungsgeschichte für Europa konkretisiert) und plädiert damit auch selber grundsätzlich für ein föderalistisches Europa. Darüber hinaus weist sie hin auf bereits realisierte Elemente einer Bürgerschaft auf europäischer Ebene, namentlich die Freizügigkeitsrechte in anderen Staaten – und zu diesen gehört insofern auch die am Binnenmarkt beteiligte Schweiz.

Vorsicht mit einem «Modell Schweiz»

Zwei Persönlichkeiten gaben der Autorin ein lebhaftes Echo: der 91jährige Politikwissenschafter Dusan Sidjanski, dessen Dissertationsthema «Du fédéralisme national au fédéralisme international» gelautet hatte und der ein enger Mitarbeiter Denis de Rougemonts gewesen war, sowie der Schriftsteller François Cherix, Kopräsident der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (Nebs). Für beide steht eine klar politische Integration Europas ausser Frage. Beide möchten aber die Schweiz nicht direkt als Modell dafür hinstellen. Sidjanski verwies auf die Unterschiede in der geografischen und auch der zeitlichen Dimension (Europa habe keine Jahrhunderte zur Verfügung), Cherix erinnerte daran, dass der Bundesstaat 1848 den Bundesvertrag durch Mehrheitsbeschluss ablöste, wogegen sich die EU eine Verfassung nur mit Einstimmigkeit der Staaten geben kann und will. Föderalismus sei nicht der einzige Weg.

Den Handlungsbedarf betonte besonders eindringlich Sidjanski. Er erwähnte nicht nur die Verarmung Griechenlands oder die Absetzbewegung in Ungarn, sondern als grösste Bedrohung – wegen der «faschistischen» Lega – Italien. Auf die Finanzkrise habe die EU ausschliesslich mit intergouvernementalen Institutionen reagiert, die Vereinbarung mit der Türkei über Flüchtlinge sei gar ein unilateraler Schritt der deutschen Bundeskanzlerin gewesen. Unabdingbar sei aber ein Minimum an geteilter politischer Souveränität. Ein grosses Manko bestehe auch in der sozialen Dimension. Einen Ausweg aus der Krise sieht Sidjanski im Vorangehen einer Kerngruppe von Staaten, wie es der Vertrag von Lissabon ermöglicht, wenn die Türe für die anderen Mitglieder offen bleibt.

Cherix befasste sich mehr mit den zugrundeliegenden Einstellungen oder den kulturellen Faktoren. Zum Begriff der politischen Individualisierung verdeutlichte er, dass ein Wille der Bürger zur staatlich-politischen Integration nötig sei (Haller geht es denn auch keineswegs um blosse Wirtschafts- oder Privatbürger). Entscheidend wäre mit Blick auf europäische Formen von Staatlichkeit die Bejahung einer individuellen Mehrfach-Zugehörigkeit. Die Schweiz, die sich auf wirtschaftliche Beziehungen konzentrieren möchte, sollte sich nicht auf ein Anderssein berufen, das sie mit ihrer Eigenschaft als EU-Nichtmitglied gleichsetze. «Auf dem Balkon» nehme sie nicht wahr, wie gefährlich die Lage sei. Es gelte, Verantwortung zu übernehmen. In Sidjanskis Augen ist selbst das Überleben der Schweiz von der Zukunft der Europäischen Union abhängig.

Gret Haller: Europa als Ort der Freiheit. Die politische Rolle des Individuums in Zeiten des Internationalismus. Mit Auszügen aus Texten von Denis de Rougemont und Alfred Kölz. Stämpfli-Verlag, Bern 2018. 112 S., Fr. 29.-.

Französische Fassung: L’Europe, un espace de liberté, erhältlich bei der Fondation Jean Monnet pour l’Europe (jean-monnet.ch).