Editorial

«O mein Heimatland! ...»

von SGA-Präsidentin Gret Haller | Oktober 2015
Ein Volk sei nur dann wahrhaft glücklich und frei, wenn es Sinn für das Wohl und die Freiheit und den Ruhm anderer Völker habe, gab Gottfried Keller zu bedenken.

Während die Eidgenossenschaft 1848 als erster europäischer Staat zur Republik wurde, lebte der überzeugte Republikaner Gottfried Keller in Heidelberg. In seinem Nachlass findet sich ein Fragment aus jener Zeit, in welchem sich der spätere Staatsschreiber des Kantons Zürich mit dem Spannungsfeld zwischen Heimatliebe und Weltbürgertum auseinandersetzt. Dieser Text ist noch heute höchst aktuell.

"O mein Heimatland! ... ", das später vertonte Gedicht an sein Vaterland schrieb Gottfried Keller ebenfalls in diesen Jahren. "Wie so innig, feurig lieb' ich Dich!" lautet die zweite Zeile, und sie bringt wohl auch das Heimweh zum Ausdruck, unter dem der Dichter in Deutschland gelitten hat. Aber die Jahre in der Fremde haben ihn geprägt, auch in seiner Heimatliebe und seinem Weltbürgertum, und beide gehören für ihn zusammen. Das damals entstandene Fragment trägt denn auch den Titel «Patriotismus und Kosmopolitismus».*)

«Erst durch die richtige Vereinigung beider gewinnt jedes seine wahre Stellung. Die Ratschläge und Handlungen des beschränkten und einseitigen Patrioten werden seinem Vaterlande nie wahrhaft nützlich und ruhmbringend sein; wenn dasselbe mit dem Jahrhundert und der Welt in Berührung tritt, so wird er sich in der Lage eines Huhnes befinden, welches angstvoll die ausgebrüteten Entchen ins Wasser gehen sieht; indessen der einseitige Kosmopolit, der in keinem bestimmten Vaterlande mit seinem Herzen wurzelt, auf keinem konkreten Fleck der Erde Fuss fasst, für seine Idee nie energisch zu wirken im Stande ist und dem fabelhaften Paradiesvogel gleicht, der keine Füsse hat und sich daher aus seinen luftigen Regionen nirgends niederlassen kann.»

«Wie der Mensch nur dann seine Nebenmenschen kennt, wenn er sich selbst erforscht, und nur dann sich selbst ganz kennen lernt, wenn er andere erforscht, wie er nur dann andern nützt, wenn er sich selbst in Ordnung hält und nur dann glücklich sein wird, wenn er andern nützlich ist, so wird ein Volk nur dann wahrhaft glücklich und frei sein, wenn es Sinn für das Wohl und die Freiheit und den Ruhm anderer Völker hat, und es wird hinwiederum diesen edlen Sinn nur dann erfolgreich bethätigen können, wenn es erst seinen eigenen Haushalt tüchtig geordnet hat. Immer den rechten Übergang und die innige Verschmelzung dieser lebensvollen Gegensätze zu finden und zur geläufigen Übung zu machen, ist der wahre Patriotismus und der wahre Kosmopolitismus. Misstrauet daher jedem Menschen, welcher sich rühmt, kein Vaterland zu kennen und zu lieben, aber misstrauet auch dem, welchem mit den Landesgrenzen die Welt mit Brettern vernagelt ist und welcher alles zu sein und zu bedeuten glaubt durch die zufällige Geburt in diesem oder jenem Volke, oder dem höchstens die übrige weite Welt ein grosses Raubgebiet ist, das nur dazu da sei, zum Besten seines Vaterlandes ausgebeutet zu werden!»

«Allerdings ist es eine Eigenschaft auch der wahren Vaterlandsliebe, dass ich fortwährend in einer glücklichen Verwunderung lebe darüber, gerade in diesem Lande geboren zu sein, und den Zufall preise, dass er es so gefügt hat; allein diese schöne Eigenschaft muss gereinigt werden durch die Liebe und Achtung vor dem Fremden; und ohne die grosse und tiefe Grundlage und die heitere Aussicht des Weltbürgertums ist der Patriotismus (ich sage absichtlich diesmal nicht Vaterlandsliebe) ein wüstes, unfruchtbares und totes Ding.»

Am 30. November 2015 werden der neue Nationalrat sowie die neu gewählten Mitglieder des Ständerates vereidigt. Den Parlamentarierinnen und Parlamentariern könnte Gottfried Kellers Text durchaus als Rahmen für ihre Tätigkeit in der nun beginnenden 50.Legislatur dienen. Denn während der kommenden vier Jahre werden die ausgebrüteten Entchen ins europäische Wasser gehen. Jenen Parlamentarierinnen und Parlamentariern, welche sich selbst am besten in der Rolle des Kellerschen Huhnes gefallen, wird nichts anderes übrig bleiben, als diese Entchen mit ihren angstvollen Blicken zu begleiten.

*) in Jakob Baechtold, Gottfried Kellers Leben, Zweiter Band, S. 522 f, Berlin 1894 (3.Auflage).
Faksimile der Handschrift und Transkription in: Gottfried Keller, Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, herausgegeben unter der Leitung von Walter Morgenthaler, Stroemfeld Verlag Basel und Verlag Neue Zürcher Zeitung 2001, Band 16.2 Notizbücher, S. 154-159.