Kolumne

«Paris» und die Sicherheit der Schweiz: Humanität ja – Naivität nein

von Kurt R. Spillmann | Dezember 2015
Auch die Schweiz ist der Gefahr des islamistischen Terrors ausgesetzt. Die Lage ruft nach einem breiten Spektrum von Schutzmassnahmen, darf aber kein Grund sein, von der offenen Gesellschaft abzurücken. Diese muss allerdings auch durch die Flüchtlinge mitgetragen werden. Die entsprechende Integration ist eine grosse Aufgabe für lange Zeit.

Die beiden islamistischen Terrorakte in Paris gegen die Redaktion von Charlie Hebdo am 7. Januar und gegen die Konzerthalle Bataclan und verschiedene Restaurants am 13. November haben auch in der Schweiz das Bewusstsein für die Möglichkeit eines unerwarteten Terrorangriffs geschärft.

Bisher konnten sich viele abwenden und sagen, diese Gewalt geht uns nichts an, wir stehen ausserhalb des Streites zwischen fundamentalistischen Islamisten und einzelnen westlichen Staaten. Doch jetzt hat der Terrorismus nicht nur in unserer europäischen Nähe zugeschlagen. Wir müssen realisieren, dass auch die Schweiz zum Westen gehört, zu den – aus islamistischer Sicht – hassenswerten Demokratien und Rechtsstaaten, in denen von Menschen entworfene Verfassungen und nicht die Scharia (als vermeintliche Gesetzgebung Gottes) gelten, Rechtsgleichheit herrscht und Frauen sowohl privat wie im öffentlichen Raum autonom und gleichberechtigt handeln können.

Die Selbstmordattentäter an der Front sind meist junge ideologisierte Fanatiker, die durch ihre Kompromisslosigkeit in der Anwendung von brutalster Gewalt gegen andere Menschen und gegen sich selbst nicht nur Angst und Schrecken verbreiten wollen. Sie wollen auch das Vertrauensfundament unter uns Bürgern einer westlichen Gesellschaft und damit die Grundlage dieser Staaten zerstören. Damit soll die verhasste westliche Gesellschaft letztlich so erschüttert werden, dass sie zerfällt und – wie es in weiten Teilen Syriens und des Irak im Sommer 2014 geschah – von den Gotteskriegern besetzt werden kann. Im Hintergrund ist der Glaube wirksam, dass im Koran der weltweite Sieg des Islam versprochen und vorausgesagt worden sei und der Islam letztlich die Weltherrschaft erringen und alle Menschen der Scharia unterwerfen werde. Für dieses Ziel sind viele junge Menschen, die diesen radikalen Glauben angenommen haben, bereit zu sterben, darunter auch viele Konvertiten aus westlichen Gesellschaften.

Zwischen Sicherheit und Freiheit

Gegen todesbereite Terroristen hilft kein Mittel der Abschreckung mehr. Wer Märtyrer werden will, sucht den Tod geradezu, und weder Drohungen noch Rücksicht auf andere noch auf sich selbst können ihn zurückhalten. Die Schutzmassnahmen müssen also auf sorgfältige Früherfassung möglicher Terroristen ausgerichtet sein, das heisst Erfassung und Kontrolle von Reisedaten verdächtiger Personen, Kontrollen von abfliegenden und ankommenden Fluggästen, verlässliche Kontrolle der Schengen-Aussengrenzen oder allenfalls – ersatzweise – der nationalen Grenzen, genauere Kenntnis von verdächtigen Gruppierungen und ihren Führungspersonen, Benutzung einschlägiger Webseiten, selbst Erfassung und Kontrolle von Brief- und Telefonverkehr bzw. Nutzung sozialer Medien, Bereitstellung speziell ausgebildeter und kurzfristig einsatzbereiter Polizei-Kontingente. Der Katalog flankierender Präventivmassnahmen liesse sich beliebig erweitern.

Bereits bei der Aufzählung möglicher Präventionsmassnahmen wird klar, dass wir durch die Pariser Ereignisse verunsichert sind und dass die Gefahr besteht, dass wir die für unsere westlichen Staaten und westliche Lebensweise zentralen Freiheitsrechte vielleicht zu sehr einschränken, um etwas zusätzliche Sicherheit zu gewinnen. Hier ist es wichtig, kühlen Kopf zu behalten und nicht in der ersten emotionalen Reaktion zu übertreiben. Die in einer offenen Gesellschaft bestehenden Risiken würden sich nur in einem Polizei- oder Gefängnis-Staat wirklich beseitigen lassen. Doch die Freiheit der offenen Gesellschaft zu verlieren, nur um die Sicherheit eines Gefängnisses zu gewinnen, kann niemals der Wille unserer Bevölkerung sein. Hier muss die Politik sehr sorgfältig und mit Augenmass einen vernünftigen Mittelweg suchen.

Eine zweite, ganz anders geartete Gefahr stellt – neben Attentaten – die Herausbildung von Parallelgesellschaften dar. Es ist begreiflich, dass Familien, die unter einem flächendeckenden Terror gelitten haben wie in Syrien, im Irak oder in Ländern Afrikas, bereit sind, alles aufzugeben, um aus dysfunktionalen Gesellschaften nach Europa zu fliehen. Die humanitäre Tradition der Schweiz nötigt uns und unsere europäischen Nachbarländer auch, grosszügig mit Flüchtlingen umzugehen. Das relativ gut funktionierende System der Schweiz, mit Einreisenden umzugehen, auch Abgewiesene rasch in ihre Heimatländer zurückzuschicken, wird bereits in deutschen Medien als vorbildlich dargestellt. Doch das ist nur die Vorderseite eines grösseren Problems, dessen viele Aspekte sich im Begriff Integration zusammenballen.

Grosse Anstrengungen nötig

Es wäre nämlich naiv zu glauben, dass wir mit der freundlichen Aufnahme jener Flüchtlinge, die fähig und willens sind, sich in unsere Gesellschaft einzufügen und unsere Verhaltensregeln zu akzeptieren, unsere Aufgabe bereits erfüllt hätten. Vonseiten unserer Gesellschaft sind umfassende Massnahmen in Bezug auf sprachliche, wirtschaftliche, soziale und politische Integration der Neuankömmlinge zu planen und umzusetzen. Es wird grosse (auch teure) und lange andauernde Anstrengungen unsererseits brauchen, um zu verhindern, dass Parallelgesellschaften entstehen, wie es in einigen Nachbarländern bereits der Fall ist. Und wir werden viel klarer formulieren müssen, wie wir mit jenen Einwanderern verfahren wollen, die zwar unter uns leben, aber unsere Verhaltensregeln – festgeschriebene wie ungeschriebene – nicht akzeptieren wollen und nach wie vor ihre religiösen Vorschriften über unsere verfassungsmässigen und gesetzlichen Vorschriften stellen. In unserem eigenen Interesse müssen wir hier klare Anpassungsforderungen stellen oder sonst den Wegzug verlangen.

An diesem Problemkreis der Integration werden die Schweiz und ganz Europa nach dem unkontrollierten Anschwellen der Einwandererströme im vergangenen Herbst noch Jahre und Jahrzehnte zu verdauen und zu arbeiten haben.

Zum Autor: Kurt R. Spillmann ist emeritierter Professor für Sicherheitspolitik und Konfliktforschung an der ETH Zürich.