Souveräner in der EU – das Luxemburger Paradox

von Christoph Wehrli | April 2016
Der luxemburgische Aussenminister Jean Asselborn hat in der Aussenpolitischen Aula der SGA begründet, inwiefern sein Staat durch die EU-Mitgliedschaft an Souveränität gewonnen hat. Was die Gespräche mit der Schweiz über die Einwanderungspolitik betrifft, plädierte er dafür, sich die nötige Zeit zu nehmen.

Es scheint paradox: Gerade ein Kleinstaat kann Souveränität dadurch gewinnen, dass er einen Teil seiner Souveränität abtritt oder vielmehr in ein supranationales Gebilde verlagert. Jean Asselborn, Aussenminister von Luxemburg, hat dies in seinem Vortrag in Bern am Beispiel seines Landes deutlich gemacht, ausgehend von den spezifischen geschichtlichen Erfahrungen des Grossherzogtums. Dieses erlangte erst 1890 die volle Souveränität, nachdem es seit 1815, nur nominell selbständig, vom König der Niederlande in Personalunion regiert worden war. Die ihm 1867 auferlegte Neutralität bewahrte Luxemburg nicht vor der deutschen Besetzung im Ersten und im Zweiten Weltkrieg, nicht vor Deportationen und Ermordungen durch die Nationalsozialisten. So hatte Luxemburg 1945, wie Asselborn sagte, keine andere Wahl, als die Gewährleistung seiner Sicherheit in zwischenstaatlichen und internationalen Strukturen zu suchen. Es wurde Gründungsmitglied der Uno (1945), der Nato (1949) und der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (1952), aus der die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die heutige EU, hervorgehen sollte.

Im Lauf der europäischen Integration habe es seine Mitspracherechte und seinen Einfluss noch ausdehnen können, sagte der Aussenminister. Als Garant der Gleichberechtigung der Mitglieder wirkt die Europäische Kommission, also gerade ein supranationales Element der Union. Praktisch kommt für die Handlungsfreiheit der Vertreter Luxemburgs hinzu, dass sie sich – keiner Machtpolitik verdächtig - offener äussern können als etwa Exponenten Deutschlands.

Der Gast zog keine ausdrücklichen Schlüsse für die Schweiz, bezeichnete die Betonung der Eigenverantwortung und die sich in der direkten Demokratie ausdrückende Volkssouveränität sogar als Erfolgsmodell, das eben auf anderen historischen Erfahrungen beruhe. In der «Bündelung» der Souveränität sieht er aber generell einen Weg, grosse Herausforderungen anzugehen. «Alle Länder in Europa sind inzwischen klein geworden», sagte der damalige belgische Premier Théo Lefèvre schon in den 1960er Jahren. Die Selbsthilfe der Nationalstaaten bleibe aber wichtig, betonte Asselborn; und die Integration gelinge nur, wenn nationale und europäische Interessen vereint würden.

Besorgt über europäische Entwicklungen
Die «Migrationskrise» zeigt nun allerdings just die entsprechenden Probleme, und der Politiker redete sie besonders im anschliessenden Gespräch mit Markus Mugglin keineswegs klein. Der Zustrom von Asylsuchenden ruft einerseits nach verstärkter Kooperation, hat anderseits tiefe Differenzen zutage gebracht. Er hätte sich nie vorgestellt, dass ein Land die Aufnahme von Flüchtlingen verweigere, gestand Asselborn ein. Wenn nicht mehr verstanden werde, dass die Menschenrechte zum Friedensprojekt EU gehörten, werde es gefährlich. Sorgen bereitet ihm erwartungsgemäss auch die Konsultativabstimmung in den Niederlanden über den Vertrag mit der Ukraine. Das Nein sei ein Denkzettel für die nationale Regierung, habe aber Konsequenzen für ganz Europa.

«Britische Lösung» für die Schweiz?
Die Schweiz würdigte der Besucher als pragmatischen Partner. Bei den Verhandlungen zur Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative werde sich Luxemburg für eine beidseits zufriedenstellende Lösung einsetzen. Es «respektiere» den Vorschlag einer einseitigen Schutzklausel, ohne die Hoffnung auf eine einvernehmliche Lösung aufzugeben. Es sei sinnvoll, «dass wir uns die nötige Zeit nehmen, um die bestmögliche Lösung zu finden, ohne unsere Kernprinzipien und individuellen Lösungsmodelle aufzugeben». Zu diesen Prinzipien gehört seitens der EU die Personenfreizügigkeit, der Zuwanderungskontingente widersprechen. Bei einer «britischen Lösung» wiederum würde sich fragen, ob sie der Schweiz genüge.