Artikel

13 Fragen an Richard Gowan

von Johann Aeschlimann | Mai 2023
«Sehr gut darin, Warnzeichen zu ignorieren»

Richard Gowan von der International Crisis Group in New York über die Handlungsfähigkeit des UNO-Sicherheitsrats, die Schweizer Präsidentschaft und die strategische Zukunft Europas.

 Russland artikuliert im Sicherheitsrat Fundamentalopposition gegen alles «Westliche». Wie beurteilen Sie das?

Man muss zwischen dem Theater im Saal und dem, wozu der Rat imstande ist, unterscheiden. Die Stimmung unter den Ratsmitgliedern ist sehr schlecht. Es gibt einen Riesenärger über die Ukraine. Die Russen sind in den öffentlichen Sitzungen sehr feindselig, es muss für Diplomaten sehr mühsam sein in diesen Sitzungen. Aber jenseits des öffentlichen Theaters funktioniert der Rat ziemlich wie vor dem 24. Februar 2022. In der Ukrainefrage ist er gelähmt. Aber in Fragen wie Afghanistan oder Haiti gibt es weiterhin Kooperation. Die Anzahl verabschiedeter Resolutionen ist etwa dieselbe. Die Franzosen und die Chinesen arbeiten sehr hart daran, dass alles ruhig bleibt. Es ist ein Schlamassel, aber es könnte weit schlimmer sein. Der schlimmste Fall wäre, wenn Russland alles mit dem Veto belegt. Im Jahr 1959 wurde eine einzige Resolution verabschiedet. Das war Lähmung.

Sind die russischen Äusserungen wirklich nur Theater, oder steht dahinter ein tiefer gefestigtes Weltbild, vom Westen eingeschnürt und angegriffen zu sein?

Ratsmitglieder spekulieren, was ihre russischen Kollegen wirklich denken. Es gibt das Gefühl, dass die russischen Diplomaten die Position ihrer Regierung loyal vertreten, aber nicht wirklich daran glauben. Ich denke, dass alle von ihnen, sogar Botschafter Nebenzya, vom Angriff auf die Ukraine nicht zum Voraus wussten. Es ist auch möglich, dass ein russischer Diplomat glaubt, der Westen arbeite gegen Russland, aber denkt, der Krieg sei ein Fehler. Im übrigen wissen wir, dass einige der russischen Äusserungen gar nicht für den Sicherheitsrat bestimmt sind, sondern für Social Media – zum Beispiel die Behauptung, dass die USA in der Ukraine eine Fabrik für biologische Waffen hätten. Wir sehen, dass Social Media so etwas aufnehmen und verbreiten. Die USA machen das auch. Donald Trump wusste, dass das Entscheidende seiner Auftritte an der UNO ein paar claims für die Social Media waren. US-Aussenminister Blinken ist ebenfalls sehr effektiv damit.

Wo der Rat sich einig ist, bleibt er machtlos: Es gibt keine Intervention gegen die Bandenherrschaft in Haiti, und der Ausbruch der Gewalt im Sudan hat alle überrascht.

Die Haiti-Sanktionen im vergangenen Jahr waren eine Anregung der Chinesen. Das Problem der Nicht-Intervention ist, dass niemand bereit ist, es zu tun. Daran ist nicht die politische Konstellation im Rat schuld.

Sudan bereitet mir Sorgen. Alle waren schockiert. Niemand dachte, dass der Kollaps so rasch käme. Das erste Problem der UNO war die Evakuation, es gab keinen richtigen Plan. Die UNO hat hier eine Menge Glaubwürdigkeit verloren. Niemand ist sicher, was nun zu tun ist.

Ein Mangel an Voraussicht und early warning ?

Man redet viel über Prävention, aber das System ist auf das Gegenteil ausgerichtet. Ratsmitglieder sind sehr gut darin, Warnzeichen zu ignorieren. Und der UNO widerstrebt es, Überbringerin schlechter Nachrichten zu sein.

Warum sind Sie wegen Sudan besonders besorgt?

Die Lage erinnert mich stark an die ersten zwei Monate nach dem Militärputsch in Myanmar. In jener Periode hat sich der Rat auf zahlreiche Erklärungen geeinigt. Aber mit der Zeit entschieden Russland und China, dass es nicht in ihrem Interesse war, eine Schwächung der Militärs zu unterstützten. Wenn die Kämpfe in Sudan andauern, fürchte ich , dass man anfängt, sich auf die eine oder die andere Seite zu schlagen,. Sudan zeigt einen weiteren Trend. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich der Sicherheitsrat vor allem auf Missionen in Afrika konzentriert, auch mit Erfolg,  wie in Liberia oder Sierra Leone. Jetzt ist die Rolle der UNO als überwiegender Sicherheitsgarant in Afrika im Niedergang. In Mali unterminieren russische Wagner-Söldner die UNO-Friedenstruppe. Im Sudan läuft die wirkliche Politik zwischen den USA, den Saudis und einigen afrikanischen Ländern. Die Afrikaner wollen die Führung übernehmen. Die Ratsdebatte über “Frieden und Sicherheit in Afrika” kommende Woche wird zeigen, wie weit die UNO mit einem neuen Rahmen für die Zusammenarbeit mit der Friedenssicherung durch die Afrikanische Union zu gehen bereit ist.

Die Sitzung, die Sie erwähnen, wird von der Verteidigungsministerin der Schweiz geleitet– einem Land, das sich nicht durch Teilnahme an UNO-Blauhelmmissionen hervortut. Ist das nicht ein wenig paradox? Oder gar heuchlerisch?

Ihr wärt nicht das erste Land, das von militärischer  Friedenserhaltung -  peacekeeping - redet und es nicht selber tut. Keiner wird sagen, die Schweizer seien heuchlerisch.

Wie schätzen Sie die Schweizer Ratspräsidentschaft ein?
Die Ratspräsidentschaft ist hauptsachlich ein prozeduraler Job. Viel Papierkram und Sitzungsleitung. Die offenen thematischen Debatten geben dem Präsidentschaftsland Gelegenheit zur Markenpflege,  einem branding exercise, indem eine öffentliche Diskussion zu Fragen der internationalen Sicherheit angesetzt wird. Die Schweiz hat gute Arbeit geleistet, sich als Champion des Völkerrechts und der internationalen Zusammenarbeit zu präsentieren, und sie entledigt sich ihrer Präsidialpflichten professionell. Der Mai war immer ein viel befrachteter Moment, es gibt schwierige Entscheide wie zum Beispiel über die Verlängerung des Embargos gegen Süd-Sudan. Aber der grosse Test kommt im Juli, wenn die Verlängerung der Resolution über den humanitären Zugang in Syrien ansteht. Die Schweiz und Brasilien sind federführend. Da wird man genau hinschauen.

Die Schweiz und Malta vertreten die Gruppe «Westeuropa und andere». Haben die nichtständigen europäischen Sicherheitsratsmitglieder eine besondere Rolle?

Die beiden europäischen E10 (elected 10) haben nach allgemeinem Verständnis besondere Verantwortlichkeiten. Sie präsidieren wichtige Sanktionsausschüsse, die Schweiz zu Nordkorea, Malta zu Iran. Der humanitäre Zugang in Syrien ist seit langem ein westeuropäisches Dossier. Die Schweiz nimmt diese Rolle ein, vielleicht noch stärker, weil sie starke diplomatische Fähigkeiten hat. Viele der kleinen Länder haben Mühe, mit der Agenda Schritt zu halten.

Ist Neutralität ein Problem?

Ich denke, das widerhallt in Bern stärker als in New York. Es hat keinen wirklichen Einfluss darauf, wie die Schweiz hier agiert und sich engagiert. Es hat keinen Fall gegeben, wo die Neutralität die Schweiz daran gehindert hätte, im Rat eine klare Position zu beziehen.

Die EU-Staaten sprechen ausserhalb formeller Treffen nicht mit den Russen. Öffnet das dem Nicht-EU-Mitglied Schweiz einen Spielraum?

Das mag möglicherweise vorteilhaft sein, aber Russland denkt ja nicht, die Schweiz sei neutral. Ich höre, dass einige europäische Diplomaten sagen, die Schweiz sei in ihren Äusserungen etwas vorsichtiger als die USA oder Grossbritannien. Das ist auch nötig. Der Job der Schweiz im Rat ist als Makler, wie im Syrien-Dossier. Das können Sie nicht sein, wenn sie andere vor den Kopf stossen. Brasilien, der andere penholder , hat einen anderen Ansatz gewählt. Sie versuchen , die Russen zu engagieren.

Sie sind auch ein Experte für europäische Sicherheitsfragen. Welchen Stellenwert hat der Ukraine-Krieg für Europa?

Der Angriff auf die Ukraine wandelt die europäische Sicht auf die Welt. Das könnte auch die Sicht auf die UNO verändern. Man sieht, dass Europa die Reihen schliesst und sich weniger um Situationen wie jene im Sudan kümmern könnte. Die NATO ist aufgerüttelt, zurück ins Jahr 1948. Und wenn vor zwei Jahren jemand  von gemeinsamer Rüstungsproduktion in der EU gesprochen hätte, wäre er ausgelacht worden.

Ist Europa auf dem Weg zur «strategischen Autonomie» à la Macron?

Viel hängt von den US-Wahlen im November 2024 ab. Wenn Biden oder ein Demokrat gewinnt, werden die USA Europa weiterhin im NATO-Rahmen aufrüsten. Wenn Trump oder ein Republikaner gewinnt, werden die Europäer zu entscheiden haben, ob sie allein weitergehen wollen. Dann würde man sehen, dass die Europäer ihre eigene Strategie entwerfen.

Bleibt der UNO-Sicherheitsrat, als universales Organ für «die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit», relevant?  

Der Sicherheitsrat ist nicht zum Vergnügen da. Er ist weiterhin der Ort, wo man den Russen ins Geschäft kommen kann, wenn man muss. Er ist der einzige Ort, wo der ukrainische Botschafter zehn Meter vom russischen Botschafter sprechen und ihn mit seiner Sicht der Dinge konfrontieren kann.

****************************************************************

Richard Gowan ist ein Experte für Sicherheitsfragen und leitet die UNO-Abteilung bei der Analyse- und Beratungsorganisation International Crisis Group in New York. Die Crisis Group bezeichnet sich als independent organisation working to prevent wars and shape policies that will build a more peaceful world. Sie.wird von Regierungen (darunter die Schweiz), Stiftungen, Unternehmen und Privaten finanziert.