20 Fragen an Abdulwasa Mohammed aus Jemen

von Johann Aeschlimann | Mai 2023
Im Jahr 1999 hat der UNO-Sicherheitsrat den “Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten» (protection of civilians, PoC) zu seinem Aufgabenbereich erklärt. In mehreren Resolutionen wurde das Konzept vertieft. Jedes Jahr wird eine grosse Sicherheitsratsdebatte geführt, eingebettet in eine “PoC-Woche» mit Veranstaltungen zum Thema. Dort treffen sich Experten, Praktiker und Interessenvertreter aus Regierungen, UNO-Verwaltung und zivilen Organisationen aus aller Welt. Einer davon Abdulwasa Mohammed aus Jemen. Er arbeitet für die britische Organisation Oxfam, eines der grossen internationalen Hilfswerke. In Jemen ist seit 2014 ein Bürgerkrieg im Gange zwischen der islamistischen Huthi-Bewegung im Norden des Landes (Hauptstadt Sanaa) und einer im saudiarabischen Exil gebildeten Regierung im Süden (Aden) im Gange. Die Huthis werden von Iran unterstützt, die Regierung in Aden von Saudiarabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Vor einem Jahr wurde unter UNO-Vermittlung ein brüchiger und befristeter Waffenstillstand geschlossen. Seither wird unter Vermittlung von Oman über eine Verlängerung und ein dauerhaftes Friedensabkommen verhandelt.

Wie lange brauchten Sie, um von Sanaa nach New York zu reisen?

Ich begann mit einer zwanzigstündigen Autofahrt zum Flughafen in Aden. Dann flog ich nach Amman, von da nach Istanbul und von dort nach New York. Es war lang.

Jemen ist kein Ort, wo es viel “Schutz der Zivilbevölkerung“ gibt, sondern eine der schlimmsten humanitären Krisen der Welt. Wie sieht es momentan aus?

Weiterhin schlimm, nach acht Jahren Konflikt. Die Mehrheit der Bevölkerung hängt von humanitärer Hilfe ab. Fast die Hälfte aller Familien hat ihren Lebensunterhalt verloren, und viele von ihnen haben Hilfe nötig. Wirtschaftliche Möglichkeiten fehlen, die Wirtschaft geht bergab, die Währung verliert an Wert, die Preise für Treibstoff und Grundnahrungsmittel sind überall gestiegen. Auf den Märkten gibt es viel Lebensmittel, aber die Menschen können sie sich nicht leisten. Wir haben über 4 Millionen intern Vertriebene. Die haben alles verloren. Sie können nicht in ihre Wohnungen zurückkehren, und sie haben kein Einkommen.

Was müssen wir uns unter “Lebensunterhalt” vorstellen? Was ist die Arbeit dieser Menschen?

Die Mehrheit war in der Landwirtschaft, sie haben Nutztiere gehalten. Viele waren Fischer. Und etliche sind beim Staat angestellt, als Lehrer, Krankenpfleger, im Gesundheitswesen, aber sie erhalten jetzt ihre Löhne nicht. Und selbst jene, die noch bezahlt werden, haben nicht genug, weil das Geld abgewertet wurde und die Preise zu sehr gestiegen sind.

Worin besteht die humanitäre Hilfe, von der Sie sprechen?

Sie kommt in Form von Bargeldhilfe. Wir reden von Familien, die nichts haben und Hilfe brauchen, um den Grundbedarf zu decken. Manchmal leisten wir auch Hilfe an solche, die sozialen Schutz brauchen, wie zum Beispiel psychosoziale Unterstützung für Frauen. Und wir geben Wasser. Sauberes Wasser.

Oxfam verteilt Wasser?

Das meiste, was wir unternehmen, tun wir mit lokalen Partnern, zivilen Organisationen im ganzen Land. Das meiste unserer Aktivitäten betrifft Wasser, Hygiene und sanitäre Einrichtungen. Wir arbeiten mit lokalen Behörden und Gemeinschaften.

Sind Sie auf beiden Seiten des Konflikts tätig?

Unser Hauptquartier ist in Sanaa, im Norden, aber wir haben auch eine Zweigstelle in Aden, im Süden. Wir arbeiten in acht Bezirken des Landes. Die zivilen Organisationen, mit denen wir zusammenarbeiten, sind im Norden und im Süden.

Der Respekt für das humanitäre Völkerrecht schwindet. Sind Oxfam-Projekte angegriffen worden?

2018 wurden Wasserprojekte von Oxfam im Nordwesten als Ziele angegriffen. Auch Projekte anderer NGO kamen in mehreren Gebieten unter Feuer, durch Luftangriffe oder Artilleriebeschuss. Seit etwa fünf Jahren haben wir keine Vorfälle mehr.

Wer hat angegriffen?

Die Saudi-Koalition.

Weibliches humanitäres Personal darf in den Huthi-Gebieten nicht mehr arbeiten, Was ist Ihre Erfahrung?

Sowohl im nördlichen wie im südlichen Teil des Landes herrschten über die Jahre Zugangsbehinderungen vor. Aber seit kurzem stellen die de-facto-Obrigkeiten in den kontrollierten Gebieten in den nördlichen Bezirken (das heisst: die Huthi-Gebiete, Red.) Hindernisse gegen die Bewegungsfreiheit von Frauen auf. Das ist eine neue Politik im nördlichen Teil von Jemen. In der Vergangenheit gab es kein Gesetz, das einer Frau einen «mahram» (Red: männlicher Begleiter) vorgeschrieben hätte, wenn sie sich öffentlich bewegen wollte.

Wird das religiös begründet?

Das war bisher nicht normal, auch in den nördlichen Gebieten nicht. Es ist erst vor kurzem eingeführt worden. Es könnte sein, dass es aus anderen Kontexten importiert worden ist, aber es gibt keine offizielle Erklärung oder Weisung. Nicht einmal von der de-facto-Obrigkeit in Sanaa.

Was tun Sie?

Wir stellen weiterhin Anträge auf Erlaubnis, weibliche Angestellte ins Feld zu schicken, im Wissen, dass sie abgelehnt werden. Das ist eine gemeinsame Position der humanitären Gemeinschaft.

Wie gut ist die humanitäre Hilfe an Jemen finanziert?

Es schaut nicht gut aus. Die UNO veranschlagt den Bedarf auf 4,3 Milliarden Dollar. Die letzte Geberkonferenz hat 1,2 Milliarden erbracht.

Was ist die Konsequenz für Oxfam?

Wir müssen uns auf die Fälle konzentrieren, die am verwundbarsten sind. Kinder, intern Vertriebene oder Haushalte, die von einer Frau allein geführt werden.

Haben Sie Leistungen abgebaut?

Als das Geld nicht mehr kam, mussten wir die Bargeldhilfe für 1000 Familien einstellen. Als wir vor kurzem ihre Lage nachprüften, sahen wir, dass sie jetzt unterhalb der Armutsgrenze leben.

Spüren Sie Auswirkungen des Ukraine-Kriegs auf ihre Lage?

Jemenitische Händler und Anbieter haben mehr Mühe, Getreide nach Jemen zu importieren. Vor einem Jahr hatten viele, mit denen wir sprachen, grosse Mühe. Sie versuchten, Ware in Indien und anderen Ländern aufzutreiben, aber die Preise waren sehr hoch im Vergleich zu denen, die sie in der Ukraine gewohnt waren. Jemen ist einer der grössten Importeure von ukrainischem Getreide. 40 Prozent von Jemens Getreide kam aus der Ukraine.

Also ist die Schwarzmeer-Vereinbarung über den ukrainischen Getreideexport ein Segen für Sie?

Das meiste Getreide, das infolge der Vereinbarung das Schwarze Meer passierte, ging nicht in die Länder ging, die in einer Krise stecken. Ich weiss, dass Jemen eine Schiffsladung erhielt, aber der Grossteil jener Lieferungen ging in reiche Länder und solche mit mittleren Einkommen. Zu meinen, es gebe einen direkten Zusammenhang zwischen der Schwarzmeer-Vereinbarung und den Menschen, die weltweit am wenigsten Nahrungssicherheit haben, ist eine Fehleinschätzung.

Gibt es weniger Aufmerksamkeit für ein Land wie Jemen, weil die reichen Länder so intensiv auf den Ukraine-Krieg fokussieren?

Weniger Aufmerksamkeit, ja, und weniger Geld. Es gibt keine Garantie, dass die Finanzen für humanitäre Hilfe auf dem heutigen Stand bleiben. Die meisten europäischen Länder haben bereits damit begonnen, ihre humanitäre Unterstützung umzulenken, zuerst auf die Pandemie und jetzt auf die Ukraine. Aber wenn die Parteien in Jemen einmal zu einer Einigung gelangt sind, wird die humanitäre Hilfe ausreichend finanziert werden müssen.

Was geschieht, wenn das nicht passiert?

Die Gewalt wird wieder beginnen.

Alles nur eine Frage ausreichender Hilfe?

Die unterliegende Krise ist weiterhin da. Das humanitäre Problem besteht wegen des ökonomischen Zusammenbruchs. Die Menschen sind nicht in der Lage, Einkommen zu erwerben, um ihren Bedarf zu decken.

Was muss jetzt  geschehen?

Das Wichtigste ist, dass die anlaufenden Verhandlungen alle einschliessen. Mehr Jemeni sollten vertreten sein, Frauen und Junge zum Beispiel. Die meisten denken, dass der Prozess ohne dies nicht funktionieren wird.