Lesetipp

«Abschied von der Solidarität?»

von Adrian Hadorn | Mai 2015
«Jemand, der sich die Entwicklungszusammenarbeit zum Lebensinhalt gemacht hat, muss sich die Frage nach dem Nutzen dieser Arbeit stellen.» (S. 246) Andreas Schild tut dies im Buch «Abschied von der Solidarität?» gründlich, hartnäckig, mit Ecken und Kanten.

Wohl kein Schweizer und keine Schweizerin haben einen so vollbepackten Rucksack an Erfahrungen in Kontinenten, Ländern, Institutionen, Themen und Modalitäten der internationalen Zusammenarbeit wie der Autor Andreas Schild.

Die drei klassischen Partnerländer der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit – Nepal, Ruanda und Bolivien, alle drei Berg- und Binnenländer - prägten seinen Erfahrungsschatz. Aber auch (politisch) exotische Kontexte wie Nordkorea erweiterten seinen Horizont.

Wohl am dramatischsten war die Erfahrung in Ruanda (Genozid 1994):

«Die Welt war erschüttert und die schweizerische Entwicklungszusammen-arbeit plötzlich als Drahtzieher, Mitläufer oder naiver Zuschauer dem innenpolitischen Rampenlicht ausgesetzt… Die Ereignisse in Ruanda bedeuteten für mich deshalb beruflich und persönlich ein Fiasko.» (S. 85)

Aus dem reichen Teppich von geschilderten Projekten, Themen und Kontexten seien hier zwei Leitmotive herausgegriffen:

· «Das Thema Ländliche Entwicklung» zieht sich wie ein roter Faden durch meinen beruflichen Werdegang (S. 202): Breites fachliches Wissen und eine sorgfältige Abgleichung der Erfahrungen in verschiedenen Kontexten und über eine lange Zeitachse hinweg machen eines deutlich: Konzepte in der Entwicklungszusammenarbeit waren und sind volatil, Modeströmungen wechseln rasch, die Probleme aber sind langwierig und hartnäckig. Und die Welt ist erst noch nicht gefeit vor ganz grundsätzlichen Veränderungen: «Die akutesten sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Probleme tauchen heute im städtischen Umfeld auf.» (S. 218)

· Staat – Zivilgesellschaft. «Die Schweiz ist das Land der zivilgesellschaftlichen Organisation schlechthin.» (S. 240). Andreas Schild als Bergler ist Demokrat und als solcher ein vehementer Verfechter einer starken Zivilgesellschaft, die den Staat kontrolliert, in Schranken hält und in Eigenverantwortung im Innern und in der Welt aktiv für die Grundwerte (Respekt für Minderheiten, Föderalismus, Menschenrechte) einsteht. «Ich betrachte eine aktive Zivilgesellschaft als Voraussetzung für die Existenz eines multiethnischen, föderalen Kleinstaates Schweiz in einer globalisierten Welt» (S. 360). Der Autor hat an vorderster Front für eine starke Einbindung der Zivilgesellschaft in die Entwicklungszusammenarbeit gekämpft, sowohl in der Schweiz wie in Partnerländern, sowohl in der Definition von Politiken und Strategien wie in der operativen Umsetzung. Die entsprechenden Kapitel sind denn sowohl für die Spezialisten wie für ein weiteres Publikum lehrreich und spannend. Und sie sind des Öfteren mit selbstkritischen Schilderungen gewürzt. Zum Beispiel Haiti, «…das zeigt, dass Wohltätigkeit nicht unbedingt zu Wohlfahrt führt» (S. 235). Myriaden von Nicht-Regierungs-Organisationen konnten nicht verhindern, dass einer ihrer Vertreter («Le petit Jésus de poche») zum Präsidenten und Tyrannen wurde…

Das Buch ist reich an Beispielen, wie Schweizer und Schweizerinnen in der weiten Welt Hervorragendes geleistet haben. Der Autor reiht sich öfters in diese Galerie von Erfolgsgeschichten ein. Es fehlen aber auch nicht Beispiele von Misserfolgen, die meistens damit zu tun hatten, dass man zu rasch zu viel wollte, aber das konkrete Umfeld des eigenen Handelns zu wenig kannte und verstand.

Die Schlussbilanz ist sehr pessimistisch. Die Schweiz setzt ihren guten Ruf aufs Spiel. Der letzte Satz des Buches streicht gar das Fragezeichen im Titel «Abschied von der Solidarität?»:

«Der kurzfristige Eigennutz wird die langfristige Verantwortung endgültig hinter sich lassen.» (S. 363)

Warum kommt der Autor zu einer solchen Abschieds-Wehmut? Womit begründet er sie?

Die Entwicklungszusammenarbeit sei von einer opportunistischen Aussenpolitik verschluckt worden. Die Zivilgesellschaft habe ihren Einfluss verspielt, sowohl was Orientierung wie Umsetzung der internationalen Zusammenarbeit betreffe. Entwicklungsdiplomaten hätten das Zepter übernommen, Felderfahrung, praktisches Lösungswissen und fachliches Können seien nicht mehr gefragt.

Der Autor schwelgt ein wenig in diesem Heroismus der Frühzeit der Entwicklungshilfe: «Die besten Entwicklungshelfer waren Käser, Förster, allenfalls Landwirte. Heute würde man sagen: Swissness pur!» (S. 279).

Sein Urteil über die jüngsten Entwicklungen im EDA fällt denn auch vernichtend aus: «Auf Anfang 2014 wurde die DEZA als Bundesamt praktisch aufgelöst… Die Reorganisation bedeutet eine kalte Revolution in der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit.» (S. 335)

Der Rezensent sieht diesen Wandel gelassener und hat dies auch öffentlich kundgetan. Das EDA ist das kleinste der sieben Departemente, es hat aber die grosse (und wachsende!) Aufgabe, die Aussenpolitik zu koordinieren. Umgang mit Zielkonflikten gehört zum Kerngeschäft. Deshalb ist Integration und Durchlässigkeit ein fast natürliches Organisationsprinzip für das EDA als Ganzes.

Darüber liesse sich trefflich streiten. Das wäre gewiss ein Beitrag zur direkten Demokratie, die Andreas Schild sehr zu Recht am Herzen liegt. Gerade weil die Aussenpolitik «immer mehr die Art und Weise, wie wir unser eigenes Haus organisieren, konditioniert» (S. 319), ist eine Debatte notwendig, die sich nicht in der Abwehr erschöpft, sondern auch über kreatives Mitgestalten der Welt geführt wird.

Andreas Schild, Abschied von der Solidarität? Zum Wandel der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit, Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2015, 376 Seiten, Fr. 38.00.