Lesetipp

Afrika als Entwicklungsobjekt

von Christoph Wehrli | Oktober 2019
In Afrika scheinen alle Entwicklungsanstrengungen wirtschaftlich recht wenig zu fruchten. Der diesjährige Caritas-Almanach bietet Erklärungen, aber auch Differenzierungen und Argumente für Zuversicht - sowie viele Postulate.

Auf dem Spektrum «zwischen Aufbruch und Armut» beleuchten Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft, NGO und Publizistik im entwicklungspolitischen Jahrbuch von Caritas Schweiz den südlich der Sahara liegenden Teil Afrikas, der Aussenstehenden immer wieder Rätsel aufgibt. Positiv verzeichnet werden Fortschritte im Bildungs- und im Gesundheitswesen, ein starkes Wachstum in etlichen Ländern, die Zunahme ausländischer Investitionen und auch eine Festigung demokratischer Institutionen. Aber immer noch leben mehr als 400 Millionen Menschen in extremer Armut – ihr Anteil nimmt ab, ihre Zahl leicht zu -, und das starke, ungeordnete Wachstum der Städte ist kaum mit einer Industrialisierung verbunden, wie sie für eine strukturelle Entwicklung als nötig und durchaus als möglich erachtet wird. Auch der demographische Wandel lässt auf sich warten, man liest sogar das verpönte Wort «Bevölkerungsexplosion».

Strukturelle Schwächen
Afrika sei vielfältig, wird in dem Band mehrmals betont. Die meisten Beiträge haben indessen nicht einzelne Länder, sondern allgemeine Tendenzen, Probleme und Strategien zum Thema. Das Hauptgewicht liegt auf wirtschaftlichen Fragen. Dazu gehört namentlich die grosse Abhängigkeit vom Rohstoffexport. Die Ambivalenz dieses «Reichtums», dessen Wert schwankt, zeigt sich indirekt darin, dass sich rohstoffarme Länder wie Äthiopien und Kenia im Durchschnitt solider entwickeln. Nicht nur haben sie in letzter Zeit von niedrigen Ölpreisen profitiert; sie haben auch in ihre Infrastrukturen investiert und sich um attraktivere Rahmenbedingungen bemüht.

Mit den Finanzflüssen von aussen nimmt auch die Gefahr der Überschuldung wieder zu. Diese Risiken birgt nicht zuletzt das unzimperliche Engagement Chinas, das als Geldgeber und zugleich als Handelspartner – Lieferant von Billigware – eine immer wichtigere Rolle spielt. Der 2017 von den G-20 verabschiedete «Compact with Africa» soll seinerseits private Mittel für Infrastrukturen mobilisieren, Reformen fördern und so die Voraussetzungen für wirtschaftliches Wachstum verbessern. Ein solch eng ausgerichtetes Programm allein bewirkt aber nach Robert Kappel (Leipzig) noch keine zusätzlichen Arbeitsplätze, speziell nicht für die ärmere Bevölkerung. Vielmehr sind unter anderem auch in der beruflichen Bildung sowie in Forschung und Entwicklung die Grundlagen dafür zu schaffen und einheimische KMU in neue Wertschöpfungsketten einzubeziehen.

Landwirtschaft als Basis
Entwicklungsorganisationen betonen seit langem, dass die internationalen Handelsregeln auch schwächeren Ländern angemessen sein müssten. Die südostasiatischen «Tiger»-Staaten hätten ihre Industrie im Schutz von Zöllen und mit gezielter Förderung aufbauen können, wie es unter dem heutigen Handelsregime nicht mehr möglich sei. Sabin Bieri (Universität Bern) macht ausserdem darauf aufmerksam, dass zum Beispiel in Vietnam die Stärkung des Agrarsektors und die Armutsreduktion die Basis für die Entwicklung der Exportwirtschaft waren. Insofern scheint es richtig, dass der ländliche Raum in der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit traditionell Priorität geniesst – auch wenn heute zudem die städtische Armut zu bekämpfen ist. Umso mehr erregt es Besorgnis, dass die bäuerliche Produzentenschaft unter Abwanderung und Überalterung leidet. Im Weiteren wird am Beispiel des Kaffees gezeigt, wie eine radikale Liberalisierung des Binnenmarktes zu Unsicherheit, fragmentierten Lieferketten, Investitionsschwäche und ungenügender Konkurrenzfähigkeit führt. Ländliche Gebiete sind mit Städten, mit Regionen von Saisonarbeit und mit dem Ausland durch Migration und entsprechende «translokale» Netze vielfach verbunden. Hannah Niedenführ (Universität Osnabrück) deutet diese sozioökonomischen Kleinsysteme allerdings mehr als Antwort auf Verletzlichkeit denn als positive Perspektive.

Zweifel am Modell
Besteht das Grundproblem darin, dass der «westliche» Entwicklungsbegriff und damit die Vorstellung, Afrika müsse «aufholen», dessen Gesellschaft und dessen Werte nicht respektiert? Selwine Sarr, der senegalesische Romancier, Ökonom und Autor des Buches «Afrotopia», plädiert dafür, dass Afrika, das lange Objekt eines Diskurses gewesen sei, eigene Ideen für seine Zukunft hervorbringe. Welcher Weg dann resultieren könnte, bleibt offen. Boniface Mabanza Bambu (Kirchliche Arbeitsstelle Südliches Afrika, Heidelberg) spricht von einem selber in die Krise geratenen Wachstumsmodell auf der einen (westlichen), vom Ziel «autonomer, sparsamer und solidarischer Gesellschaften» auf der anderen (afrikanischen) Seite. Franziska Koller (Caritas) weist besonders darauf hin, dass in Afrika soziale Netze eine wichtigere Rolle spielen als Individuum und Staat.

Solche Analysen sind gewiss bedenkenswert. In der Kontrastierung erscheinen aber Gewinn- bzw. Konsumstreben und Mitmenschlichkeit allzu einseitig verteilt. Den Hungernden ist jedenfalls mit Entwicklungskritik noch nicht geholfen. Die Frage, wie eine umweltverträgliche Wirtschaft konkret zu gestalten ist, ist allerdings im Süden wie Norden dringlich und zentral. Der Almanach lässt dies zu wenig erkennen; nach dem Verweis auf die Sustainable Development Goals (SDG) erwartet man Konkretisierungen.

Caritas Schweiz (Hg.): Almanach Entwicklungspolitik 2020. Afrika zwischen Aufbruch und Armut. Caritas-Verlag, Luzern 2019. 320 S., Fr.39.-.