Lesetipp

Anwalt unteilbarer Gerechtigkeit

von Christoph Wehrli | Januar 2019
Dick Marty blickt zurück auf sein Engagement als Staatsanwalt und Politiker. Es galt im kantonalen, schweizerischen und europäischen Rahmen der Gerechtigkeit – auch gegen mächtige, oft kurzsichtig verfochtene Interessen.

Tessiner Staatsanwalt (1975-1989), Regierungsrat, Ständerat (1995-2011) und Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats: Dick Marty hat eine Karriere in allen drei Staatsgewalten und auf drei Ebenen durchlaufen und internationale Bekanntheit erlangt. In seinen Memoiren berührt er denn auch ein breites Spektrum von Themen, von der Verfolgung gewichtiger Drogenhändler bis zum Verhältnis zwischen Rechtsstaat und Terrorbekämpfung, von der Stellung der Bundesanwaltschaft bis zur Entwicklungshilfe, von der Rolle des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) bis zu Verbrechen der kosovarischen Rebellenarmee, mit denen sich etliche Jahre nach Martys Untersuchung ein Sondergericht in Den Haag befasst. Er schildert eindrückliche oder auch skurrile Begegnungen, erzählt spannende Episoden und legt grundsätzliche Gedanken vor. Auch wenn sich der Autor vielleicht zu allzu vielen Fragen und Akteuren äussert, wird das Buch nicht nur durch die Person, sondern auch sachlich zusammengehalten.

Verflechtung und Kooperation
Materiell bestehen oft Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Stufen und Bereichen. Zum Beispiel wäre der grosse Schlag gegen Heroinhändler 1987 nicht möglich gewesen ohne Blick über die Grenzen und ohne Kooperation mit anderen Staaten (und wohl auch nicht ohne eine Portion Ehrgeiz). Die internationale Zusammenarbeit wurde später erleichtert durch eine gewisse Zentralisierung oder Harmonisierung der Strafverfolgungssysteme – politisch beschlossene Reformen, die indirekt durch Urteile des EGMR vorangebracht wurden. Gegen das Drogenproblem selber liesse sich, wie Marty schon früh postulierte, besser vorgehen, wenn der Konsum entkriminalisiert würde – was Sache des Gesetzgebers wäre, der wiederum auch internationale Abkommen zu beachten oder deren Anpassung anzustreben hat.

Durchwegs geht es dem Freisinnigen („Radicale“, vom „linken“ Flügel der Tessiner FDP) um Gerechtigkeit, «Une certaine idée de la justice », wie der Buchtitel lautet. Die Idee wird illustriert durch das Bild der sechsjährigen Ruby Bridges, die 1960 aufrechten Ganges als erste Afroamerikanerin in eine bisher „weisse“ Schule im Süden der USA schreitet. Zentral sind also die Menschenrechte. Konkret im Blick sind aber auch die Proportionen zwischen kleiner und - schwieriger zu ahndender - grosser Kriminalität, die Durchsetzung der Steuerpflicht sowie die Beziehungen zum globalen Süden, wobei Marty gewisse Zweifel an der kompliziert und schwer durchschaubar gewordenen Entwicklungshilfe äussert, diese jedenfalls durch Hinweis auf Themen wie die Verantwortung von Unternehmen relativiert.

Glaubwürdig gegen Terrorismus
Die Menschenrechte sollen sich gerade auch im Kampf gegen den Terrorismus bewähren. Marty sieht in einem konsequent rechtsstaatlichen Vorgehen der westlichen Staaten eine Frage der Glaubwürdigkeit und eine Bedingung des Erfolgs, sofern man auch die Ursachen der Attacken angehen will. Er scheute sich demzufolge nicht, die Terroristen-Listen des Uno-Sicherheitsrats und deren mechanische Befolgung durch die Staaten insofern hart zu kritisieren, als keinerlei Rechtsschutz besteht. Die Überzeugung vom kompromisslos hochzuhaltenden Wert der Menschenrechte steht besonders hinter der Hartnäckigkeit, mit der er im Auftrag des Europarats bestimmten Aktivitäten der CIA in Europa nachging: den „mehreren hundert“ Verschleppungen von Verdächtigen und den geheimen Haftorten, die es zumindest in Polen und Rumänien gegeben haben dürfte. Der Berichterstatter verfügte für seine Recherchen über keine untersuchungsrichterlichen Befugnisse und nur über wenige Mitarbeiter, gewann aber vor allem durch die Zusicherung der Anonymität das Vertrauen vieler Auskunftspersonen. Dies setzte ihn allerdings der Kritik aus, es fehlten „Beweise“. Wie damals klagt Marty auch heute die staatlichen Behörden an, die sich, den USA zu Diensten, weitgehend aufs Schweigen verlegten. – Man mag in diesem Rückblick eine generelle Einschätzung der Möglichkeiten und Grenzen des Europarats vermissen. Allerdings war wohl das Thema der Untersuchungen so aussergewöhnlich wie in mancher Hinsicht der Rapporteur.

Enttäuschtes Vertrauen in den Staat
Nicht alle Freiheitsrechte setzt Marty unter allen Umständen absolut. So urteilt er relativ wenig rigoros über die Verhältnisse in Kuba, da die Menschenrechte „nicht ausserhalb einer sozialen Perspektive betrachtet werden“ könnten und der sozialistische Karibikstaat namentlich im Gesundheitswesen seinen Einwohnern Beachtliches biete. Was die westlichen Staaten betrifft, so dominiert nach seiner Untersuchung der Terrorbekämpfung indessen „ein Gefühl der Enttäuschung und Frustration“; er sieht die gemeinsamen Werte politisch verraten. Auch die damalige schweizerische Aussenministerin Micheline Calmy-Rey wird vom Vorwurf nicht verschont, sie sei den USA sehr gefügig gewesen und über ihre eigenen Menschenrechtsbekenntnisse nonchalant hinweggegangen.

Im Buch erscheinen viele dubiose, charakterschwache, von wirtschaftlichen Interessen gesteuerte Figuren. (Etwas überraschend wirkt die Zurückhaltung gegenüber dem syrischen Machthaber Bashar al-Asad und den Giftgasangriffen, die zwar von manchen voreilig, dann aber auch von Experten dem Regime zugeschrieben worden sind.) Mit gewissen politischen Realitäten oder Zwängen findet Dick Marty sich nicht ab. Schwarz und Weiss dürften im Bild der Menschen und der Verhältnisse, das er uns zeigt, zuweilen zu stark kontrastieren. Doch die unermüdliche, fruchtbar gemachte Empörung über Ungerechtigkeiten verdient Respekt.

Dick Marty: Une certaine idée de la justice. Tchétchénie – CIA- Kosovo – drogue. Editions Favre, Lausanne 2018. 313 S., Fr. 29.-.