Auslaufmodell Neutralität?

von SGA-Vizepräsident Rudolf Wyder | Oktober 2022
Der Überfall auf die Ukraine bedeutet eine Zeitenwende. Ist im Lichte des russischen Frontalangriffs auf die internationale Ordnung die Neutralität der Schweiz noch zeitgemäss? Welche Spielräume hat ein Neutraler in der Solidarisierung mit Opfern krasser Völkerrechtsverstösse? Drängt sich eine stärkere Beteiligung an Mechanismen der kollektiven Sicherheit auf? Wenige Tage nach dem Bundesratsentscheid, den im EDA vorbereiteten Neutralitätsbericht zu schubladisieren, hat die SGA diesen drängenden Fragen die erste Berner AULA-Veranstaltung des Wintersemesters 2022/23 gewidmet.

Wie wandelbar und kontextabhängig Neutralität ist, machte der Berner Ordinarius für Schweizergeschichte André Holenstein deutlich. In seinem als «Denkanstösse aus Sicht der Schweizer Geschichte» charakterisierten Referat zeigte er auf, dass die schweizerische Neutralität zwar ein über Jahrhunderte gewachsenes, aber alles andere als uniformes, starres Konzept ist. Unter dem Begriff Neutralität segelt ebenso die nach Marignano eingeleitete Politik der Allianzen und Verträge mit wichtigen Nachbarn, verbunden mit «Stillesitzen», wenn diese untereinander Krieg führten, wie das vom Wiener Kongress oktroyierte Regime eingeschränkter Souveränität durch die Verpflichtung zu immerwährender Neutralität als auch die im Hinblick auf den Beitritt zum Völkerbund erklärte «differenzielle Neutralität» und die Abkehr von dieser, als es galt, Sanktionen gegen den Nachbarn Italien mitzutragen und schliesslich auch die neutralitätspolitisch problematische Konzessionsbereitschaft gegenüber Nazideutschland wie in der Folge auch gegenüber den Alliierten.

Zweckmässigkeit und Zuverlässigkeit der Neutralität als sicherheitspolitisches Konzept, so Holenstein, hängen vom geopolitischen Umfeld ab. Wie auch die Geschichte anderer Neutraler zeigt, beruht die Verlässlichkeit der Neutralität nicht allein auf der Selbstdeklaration und Politik des Neutralen. «Sie steht und fällt mit der Akzeptanz, dem Verständnis und der Interessenlage der kriegführenden Parteien im geopolitischen Umfeld.» Vor dem Hintergrund der wechselhaften Neutralitätsgeschichte und prekärer Erfahrungen mit diesem Konzept erstaunt die nahezu fraglose Akzeptanz der (freilich nicht näher spezifizierten) Neutralität in der Schweizer Öffentlichkeit. Holenstein konstatiert unumwunden eine «Überhöhung zum Identitätsmerkmal und konstitutiven Element des schweizerischen Staatsgedankens statt der pragmatisch-nüchternen Bewertung als Instrument der Aussen- und Sicherheitspolitik».

Hat die schweizerische Neutralität eine Zukunft?

«Die Neutralität ist kein veraltetes Konzept, wir müssen sie nur zeitgemäss interpretieren», lautete die Kernaussage von Christina Graf, Programmleiterin beim Think tank foraus und Mitverfasserin der Studie «Kooperative Neutralität: Sieben Empfehlungen für ein Update der Schweizer Neutralität» (Sie betonte, die Schweiz könne ihre Sicherheit nicht allein gewährleisten, sondern sei auf Kooperationen und internationale Akzeptanz für ihre Politik angewiesen. Graf plädiert deshalb dafür, den Status der Neutralität auf internationaler Ebene zu stärken, einerseits durch Koalitionen mit anderen Neutralen, andererseits durch aktiven Dialog mit allen Akteuren. Die Dienstleistungsfunktion der Neutralität bleibt in ihren Augen wichtig, wenngleich Neutralität dafür keine zwingende Voraussetzung bilde. Unumgänglich ist es für die Referentin, dass der Bundesrat seine neutralitätspolitischen Leitlinien neu definiert und den diesbezüglichen innenpolitischen Dialog sucht. Zu einem zeitgemässen Neutralitätsverständnis gehören für Graf die Begriffe «wertebasiert» (was etwa die aktive Verurteilung von Völkerrechtsverletzungen und die Förderung der internationalen Strafjustiz impliziert), «proaktiv» (im Gegensatz zu passiv-reaktiv) und «kooperativ» (statt isoliert-eigenbrötlerisch).

Anders als die Vertreterin der Generation foraus zieht alt Botschafter Daniel Woker, Mitbegründer von «Share-an-Ambassador/Geopolitik von Experten», die Zukunftstauglichkeit der schweizerischen Neutralität grundsätzlich in Zweifel. In seinem Co-Referat ging er davon aus, das geopolitische Umfeld habe sich in jüngster Zeit derart verändert, dass sich die Schweiz der klaren Positionierung gegen Angriffe auf die internationale Ordnung, das Völkerrecht und elementare Menschenrechte immer weniger entziehen könne. Dies ergebe sich zum einen aus dem Verfassungsauftrag, zur Achtung der Menschenrechte, zur Förderung der Demokratie und zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker beizutragen (Art. 54 BV). Zum anderen gebiete es die Solidaritätspflicht gegenüber Partnern, welche unsere Werte teilen, und sei damit zugleich ein Element unserer Sicherheitspolitik. Woker rief in Erinnerung, die Schweiz sei zur Beibehaltung der Neutralität nicht verpflichtet, sondern könne diese aufgeben, sollte die Sicherheit durch andere Konzepte besser gewährleistet werden können. Wie seine Vorrednerin hob er hervor, Neutralität sei keine zwingende Voraussetzung zur Leistung guter Dienste. Auch sei die Neutralität des IKRK nicht Funktion der schweizerischen Sicherheitspolitik. Ein Näherrücken an die Nato steht für Woker ebenso zur Debatte wie die Beteiligung an sicherheitspolitischen Initiativen der EU. Sein Fazit: Die Neutralität darf der Beantwortung der Hauptfrage der schweizerischen Aussenpolitik, jener nach unserem Platz in Europa, nicht im Wege stehen.

Neutralität und Europapolitik unter einen Hut bringen

Konsens herrschte in der von Markus Mugglin geleiteten Diskussion unter den Podiumsteilnehmern, dass Neutralität nicht starres Dogma sein kann, sondern als Instrument der Aussenpolitik den sich wandelnden Gegebenheiten und Herausforderungen anzupassen ist – und auch immer wieder angepasst wurde. Christina Graf plädierte, gerade auch mit Blick auf die anstehende Mitwirkung in Uno-Sicherheitsrat, für eine mutigere Friedenspolitik und den Ausbau der Schutz- und Dienstleistungsfunktion der Neutralität. André Holenstein machte auf das latente Spannungsverhältnis zwischen Engagement und Enthaltsamkeit aufmerksam, das dem Begriff «wertebasierte Neutralität» innewohnt. Mit Daniel Woker war er sich einig, dass es ein Unding wäre, ein bestimmtes (doktrinäres) Neutralitätsverständnis in die Verfassung einzugravieren, wie es die von Rechtsaussen angekündigte Volksinitiative verlangt, denn dies würde die Verteidigung demokratischer Werte verunmöglichen und die Schweiz von Gleichgesinnten entfremden.

Auf eine Anregung aus dem Publikum, Neutralität und Europapolitik im Paket zu diskutieren, räumte Historiker Holenstein ein, es seien zum Teil dieselben verzerrten Wahrnehmungen, Geschichtsmythen, ja Geschichtslügen, welche einem realistischen Umgang mit den beiden Themenbereichen in Wege stehen. Auch wenn man einer Vermischung der Beziehungsprobleme zwischen Bern und Brüssel mit der emotional befrachteten Neutralitätsfrage skeptisch gegenüberstehen mag: es bleibt das Fazit des Berner AULA-Abends, dass es dringend ist, eine zeitgemässe Neutralitätsauffassung mit einer realistischen Europapolitik unter einen Hut zu bringen.

Schauen Sie hier die Präsentation von Prof. André Holenstein an.