«Aussenpolitische Aula» in Zürich: Vision einer Europäischen Republik

von Christoph Wehrli | November 2016
Die deutsche Politikwissenschafterin Ulrike Guérot hat in Zürich über ihre Utopie für Europa gesprochen. An die Stelle der EU und der Nationalstaaten solle eine Republik treten, die auf Regionen und Gleichberechtigung basiert. Dem Referat folgte eine kontroverse Debatte.

Die mehrfach schwierige Lage der Europäischen Union kann nicht nur eine Stärkung nationalistischer Bewegungen bedeuten, sondern auch Anlass sein, über ein andersartig integriertes Europa nachzudenken. In diesem Sinn zeigt Ulrike Guérot, Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems, in einem neuen Buch, «Warum Europa eine Republik werden muss». Auf Einladung der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik und des Europa Instituts an der Universität Zürich hat sie am Ort von Churchills berühmter Europarede ihre «politische Utopie» zur Diskussion gestellt.

Die EU in der Sackgasse
Die heutige EU steckt aus Guérots Sicht in einer essenziellen Krise. Die Friedensfunktion reiche nicht mehr, um positive Emotionen zu wecken, ebenso wenig könne der Binnenmarkt die Menschen vereinen. Die Institutionen genügten den Ansprüchen an ein Parlament, an eine Regierung und an ein integrierendes Organ grundsätzlich nicht. Die weiterhin starken nationalstaatlichen Kategorien wiederum entsprächen nicht der dominanten, sich regional ausprägenden Spannung zwischen Globalisierungsgewinnern und -verlierern.

Als langfristig durchaus realisierbare Alternative zur EU – diese möchte sie «dekonstruieren» - skizzierte die Utopistin ein Europa, das mehr weibliche, ja mütterlich-nährende Züge trägt und tatsächlich «Einheit in Vielfalt» gewährleisten kann. Die Grundeinheiten dieser Republik sind Regionen – sie seien ja für die Menschen Heimat. Die Verbindung wird geschaffen durch Gleichberechtigung der Bürgerinnen und Bürger bezüglich Wahlen, Steuern und Zugang zu sozialen Rechten sowie durch gemeinsame Institutionen: Ein Abgeordnetenhaus wird auf der Basis gleicher Stimmkraft gewählt, in einem Senat sitzen je «Provinz» zwei Delegierte, und ein Präsident wird eventuell ebenfalls direkt gewählt. Dank Internet lässt sich die Demokratie transnational organisieren. Während in den Nationalstaaten die Tendenz bestehe, Macht zulasten der persönlichen Freiheit zu usurpieren, versteht Ulrike Guérot die europäische Republik als Weltbürgergesellschaft und Projekt einer neuen Emanzipation.

Skepsis gegenüber einem Superstaat
In der von Markus Mugglin geleiteten Podiumsdiskussion wandte sich Francis Cheneval, Professor für politische Philosophie an der Universität Zürich, gegen ein «EU-Bashing», das sich (in Guérots Buch) stark der populistischen Redeweise annähere. Auf den durch den Binnenmarkt geförderten Wohlstand wolle auch Grossbritannien nicht verzichten. Zugleich bezweifelte Cheneval, dass der Nationalismus gewissermassen durch einen europäischen Nationalstaat – bevölkerungsmässig eine Supermacht – überwunden werden könnte. Verunsicherung, ein Nährboden für Populismus, sei nicht nur in der EU, sondern ebenso in den USA anzutreffen. Und mit dem heutigen Nationalstaat würde man auch den Sozialstaat aufheben. Anzustreben sei vielmehr eine bessere Qualität der Beziehungen zwischen den Staaten. Auch in dieser Hinsicht stehe die EU nicht schlecht da, indem sie zum Beispiel den Brexit erlaube – eine Sezession, die in anderen Kontexten zum Krieg geführt hätte. Eine Demokratisierung liege auch in der Hand der einzelnen Staaten, die etwa ihre Parlamente in die EU-Entscheidfindung einschalten könnten. Guérot ermittelte dazu in einer Befragung allerdings völlig fehlendes Interesse.

Während der Schweizer Podiumsteilnehmer der EU trotz allem Reformbedarf wichtige Errungenschaften attestierte, erhielt Ulrike Guérot aus dem EU-Mitgliedstaat Österreich eher Sukkurs. Philippe Narval, Geschäftsführer des Europäischen Forums Alpbach, freute sich über die wiedergewonnene «Utopiefähigkeit». Allerdings sei nicht nur über Strukturen zu reden, sondern auch über den Boden. Dieser breche insofern weg, als das Binnenmarkt- und Wohlstandsargument nicht mehr funktioniere. Man sollte sich den grossen Transformationen zuwenden, namentlich den Folgen des Klimawandels oder der Digitalisierung von Wirtschaft und Alltag, die auch eine neue Gestaltung des Gemeinwohls erforderten. Nationale Identitäten seien konstruiert, es gelte, Europa erlebbar zu machen.

Und wie reagierte das Publikum? Die Mehrheit der zahlreichen Zuhörer schien, im Kontrast zur hauptsächlich defensiven schweizerischen EU-Diskussion, die Öffnung einer weiten Perspektive sehr zu begrüssen.