Lesetipp

Bangladesh: Erfolge, die zu wenig zu reden geben

von Markus Mugglin | Februar 2022
Angeblich «hoffnungslos» in die Unabhängigkeit gestartet, kann Bangladesch heute erstaunliche Erfolge vorweisen. Der ehemalige Botschafter René Holenstein vermittelt über Gespräche mit einheimischen Zeitzeugen ein entwicklungspolitisch interessantes Portrait des Landes, das schafft, was viele arme Länder nicht schaffen.     

Monsunregen überfluten regelmässig grosse Teile der wenig über Meeresspiegel liegenden Landflächen. Der Einsturz einer Textilfabrik hat vor acht Jahren mehr als tausend schlecht bezahlten Arbeiterinnen und Arbeitern das Leben gekostet. Fast eine Million Angehörige des Rohingya-Volkes suchen Zuflucht im weltweit grössten Flüchtlingslager. Bangladesch ist ein schwer geprüftes Land. Trotzdem lag der grosse Sicherheitsstratege Henri Kissinger völlig falsch mit seiner Behauptung, das Land sei ein hoffnungsloser Fall.

Im Gegenteil: In den 50 Jahren seit der mit vielen Opfern erkämpften Unabhängigkeit kann das Land erstaunliche Erfolge vorweisen. Die Menschen leben heute viel länger als damals. Die Geburtenrate ist stark gesunken von durchschnittlich sieben Kindern auf durchschnittlich 2,1 Kinder. Der Anteil der Menschen unterhalb der Armutsgrenze hat sich seit 2000 halbiert. Mehr Mädchen als Junge gehen zur Schule. Beeindruckende Erfolge sind es, die aber keine Schlagzeilen machen.

René Holenstein, der von 2017 bis 2020 die Schweiz als Botschafter vertreten hat, füllt mit seinem Buch «Mein goldenes Bengalen» die Wahrnehmungslücke. Ein willkommenes Buch, das «good news» dem gängigen Muster «bad news are good news» entgegenhält.

Das heisst aber nicht, dass der Autor den Blick einseitig auf Erfolge richtet. Probleme werden ebenso offen benennt und analysiert. Die Gefahren des Klimawandels mit dem drohenden Anstieg des Meeresspiegels, die Korruption, autokratische Tendenzen, islamistische Strömungen, wachsende Ungleichheiten. Bangladesch soll mittlerweile die grösste Zahl von Multimillionären in kürzester Zeit produzieren. (Seite 84).

Die einheimischen Stimmen geben die Analyse vor

Der Autor rückt sich selber nicht ins Zentrum der Analyse. Botschafter im eigentlichen Sinne vermittelt er über – wie es im Untertitel des Buches heisst –  «Gespräche in Bangladesch» mit Frauen und Männern aus Politik, Wissenschaft, Kultur, Medien und zivilgesellschaftlichen Organisationen, wie prominente Stimmen die Entwicklung ihres Landes seit der Unabhängigkeit beurteilen. Was wurde erreicht, was nicht, welche Fortschritte erzielt, welche Rückschläge erlitten. Auch grosse Ungewissheiten über die künftige Entwicklung werden benannt.

Wo liegt das Geheimnis der Entwicklungserfolge? Auch wenn es mehrere Gründe dafür gibt, sind vor dem Hintergrund globaler Auseinandersetzungen zwei besonders interessant. Bangladesch profitierte seit den 1990er Jahren wie nur wenige arme Länder von der wirtschaftlichen Globalisierung.

Das Land setzte auf die Liberalisierung des weltweiten Textilhandels und spielte die sehr tiefen Löhne für meist junge Näherinnen kompromisslos als Wettbewerbsvorteil aus. So stieg Bangladesch hinter China zur weltweiten Nummer zwei der Kleiderexporteure auf. Die Branche erzielt allein 80 % der Exporteinnahmen des Landes. Ebenfalls von grosser wirtschaftlicher Bedeutung sind die Devisenüberweisungen, die oft unter prekären Bedingungen insbesondere in Golfstaaten schuftende Bengali nach Hause schicken.

Ist also Bangladesch der Beweis für den Segen der Globalisierung mit den offenen Märkten für Güter und migrierende Menschen? Sie trugen zweifellos wesentlich zu den Erfolgen bei. Doch ebenso offensichtlich sind negative Begleiterscheinungen. Die Ungleichheit hat sich stark vertieft. Die Korruption ist ein grosses Problem. Der Exekutivdirektor von Transparency International Bangladesch kritisiert im Gespräch mit dem Buchautor, dass die Politik «zu einer Lizenz zur Selbstbereicherung geworden» sei. Viele Parteiführer und -mitglieder der seit langem regierenden Partei würden «versuchen, ihre politische Position zu nutzen, um ein Vermögen aus allen möglichen Aktivitäten anzuhäufen».

Und doch ist auch an der Basis viel geschehen. Dafür steht die Grameen Bank, die der Wirtschaftswissenschaftler Mohammad Yunus als Bank für die Armen der Welt 1983 gegründet hatte. Sie wurde zur weltweit bekanntesten Bank für Mikrokredite und trug ihrem Gründer den Friedensnobelpreis ein. Bangladesch hat mit BRAC die weltweit grösste Nicht-Regierungsorganisation, die mit über 100'000 Mitarbeitenden auch in Afrika und Asien tätig ist. In Bangladesch ist lokale Regierungsführung weit verbreitet und dabei spielt die Schweiz über Helvetas eine prominente Rolle. Das Hilfswerk wirkte über viele Jahre in dreihundert Gemeinden beratend mit. Gewählte 13 Regierungsmitglieder, darunter mindestens 3 Frauen, sind in den Gemeinden für die Bereitstellung von Dienstleistungen und die Koordination der lokalen Entwicklung zuständig. «Good governance» auf lokaler Ebene wird praktiziert.

Der ehemalige Botschafter vermittelt über die Gespräche mit einheimischen Frauen und Männern ein differenziertes Bild über ein Land, das hierzulande - wenn überhaupt - als Ort von Krisen wahrgenommen wird. Der Autor bringt ein Land nahe, das aus entwicklungspolitischer und -theoretischer Sicht auch für Diskussionen in der Schweiz wertvoll ist. Entwicklungszusammenarbeit kann positive Impulse geben, ist aber nur ein Teil im grösseren Ganzen der Politik eines armen Landes.

René Holenstein, Mein goldenes Bengalen, Gespräche in Bangladesch, Chronos Verlag, 256 Seiten, CHF 38.00