Kolumne

SGA-ASPE zu Bilateralen: Nächster Urnengang dringend

von Rudolf Wyder | Juli 2016
Der am 9. Februar 2014 angenommene «Masseneinwanderung»-Artikel 121a BV muss innerhalb von drei Jahren umgesetzt werden. Zweieinhalb Jahre sind nun vergangen, und immer noch stochern die Akteure im Nebel.

Weder ist eine Einigung mit Brüssel in Sicht, noch zeichnet sich eine von den massgeblichen politischen Kräften getragene gemeinsame Strategie ab. Die einen scheinen zu hoffen, die EU werde unser Problem lösen, indem sie für eine Aufweichung des Prinzips der Personenfreizügigkeit Hand biete. Man müsse bloss selbstbewusst verhandeln, heisst es, und überhaupt zwinge der Brexit die Union, die vierte Freiheit des Binnenmarkts einzuschränken. Andere suchen nach einer Schlaumeierei, um den Widerspruch zwischen Kontingentierung und Freizügigkeit zum Verschwinden zu bringen. Inländervorrang oder einseitige Schutzklausel heissen die angeblichen Wundermittel. Wiederum andere möchten das Geschehene ungeschehen machen. Die Rasa-Initiative verlangt bündig, Artikel 121 a BV zu streichen.

Im Fokus der Gespräche mit der EU steht Artikel 14 Absatz 2 des Freizügigkeitsabkommens, der es den Vertragsparteien gestattet, «bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen» an den Gemischten Ausschuss zu gelangen und Abhilfemassnahmen vorzuschlagen. Liegt ein solcher Anwendungsfall vor? Könnte er allenfalls vorübergehend für einzelne Regionen oder Branchen geltend gemacht werden? Parallel zu den Verhandlungen bereitet das Parlament die Anpassung des Ausländergesetzes an den neuen Verfassungsartikel vor. Wird diese Revision, wenn sie am Grundsatz der Personenfreizügigkeit festhält, ein allfälliges Referendum überstehen?

Die Stimmen mehren sich, beides greife zu kurz, es gehe nicht ohne erneuten Eingriff in die Bundesverfassung. An Vorschlägen fehlt es nicht. Diese zielen allerdings in alle Himmelsrichtungen. Von einem Konsens unter den politischen Hauptakteuren sind wir weit entfernt. Dabei läuft uns, während Parteien und Parlamentskommissionen noch an Hilfs- und Ersatzkonstruktionen herumlaborieren, die Zeit davon. Es versteht sich, dass man während laufenden Verhandlungen (auch wenn sie nur «Gespräche» heissen) nicht gerne über Optionen für den Fall ihres Scheiterns debattiert. Darüber nachzudenken, ist jedoch unaufschiebbar.

Die SGA-ASPE bleibt bei dem, was sie im Vernehmlassungsverfahren erklärt hat: Der Schweizer Souverän hat Unvereinbares beschlossen. Einerseits hat er – und dies mehrfach – die Beteiligung am europäischen Binnenmarkt und die damit verbundene Personenfreizügigkeit mit deutlichen Mehrheiten gutgeheissen. Andererseits hat er der Steuerung der Migration mittels Höchstzahlen und Kontingenten zugestimmt. Diesen Widerspruch kann nur derselbe Souverän an der Urne beseitigen. Zu diesem Schluss führt auch der Entscheid des Bundesgerichts, das Freizügigkeitsabkommen gehe im Konfliktfall späteren innerstaatlichen Regelungen vor. Die Frage ist daher bloss noch, wann über welche Formulierung abgestimmt wird.

Artikel 121a BV ersetzen, modifizieren oder ersetzen?
Die Frage, um die es im Kern geht, ist stets dieselbe: Will die Schweiz den nach 1992 eingeschlagenen «bilateralen Weg» im Verhältnis zur EU weitergehen oder nicht. Offen ist, wie die konsequenzenreiche Weichenstellung herbeigeführt wird. Logisch gibt es drei Möglichkeiten: Man kann den mit den Prinzipien des europäischen Binnenmarkts unvereinbaren Artikel 121a BV entweder aufheben, modifizieren oder ersetzen.

  • Die im Oktober 2015 mit 108‘640 gültigen Unterschriften eingereichte Initiative «Raus aus der Sackgasse» (Rasa) verlangt, Artikel 121a BV ersatzlos zu streichen. Der Ruf nach Neubeurteilung ist gerechtfertigt. Es ist keineswegs undemokratisch, nochmals über die Bücher zu gehen, nachdem man sich der Umsetzungsprobleme voll gewahr geworden ist. Allerdings geben der Initiative nur wenige eine Chance. Ihr Nutzen dürfte darin liegen, den Anstoss zu einem mehrheitsfähigen, europakompatiblen Gegenvorschlag zu geben.

  • Einen solchen Gegenvorschlag präsentiert der Think-Tank foraus mit dem «Konvergenzartikel». Dieser kombiniert Elemente des «Masseneinwanderung»-Artikels (eigenständige Steuerung der Zuwanderung, gesamtwirtschaftliche Interessen) mit weithin akzeptierten Prinzipien (staatsvertragliche Regelungen, Arbeitsverhältnis bzw. ausreichende Existenzgrundlage als Aufenthaltskriterien, begleitende Massnahmen). Internationale Freizügigkeitsregelungen werden dabei als eines der möglichen Steuerungsinstrumente verstanden.

  • Die Neue Europäische Bewegung Schweiz (Nebs) hat schon früh vorgeschlagen, Artikel 121a BV durch folgenden Absatz zu ergänzen: «Unter Vorbehalt der Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union.» Obwohl die Bilateralen damit gerettet wären, hat der schlanke Vorschlag noch nicht gebührende Beachtung gefunden.

  • Als minimaler Eingriff steht eine Modifikation der Übergangsbestimmungen zu Artikel 121a BV zur Debatte. So könnten die mit der EU getroffenen Vereinbarungen vorbehalten oder zumindest die Umsetzungsfrist von 3 Jahren aufgehoben werden. Freilich bedingt auch dies eine Verfassungsabstimmung mit doppeltem Mehr. Die Idee, eine Fristerstreckung durch einen referendumsfähigen Bundesbeschluss herbeizuführen, wird von Verfassungsrechtlern nicht goutiert.

  • Viel Sympathie hegen Konstitutionalisten hingegen für Vorschläge, die darauf zielen, den am 9. Februar 2014 in die Verfassung eingefügten Fremdkörper durch einen Europa-Artikel zu ersetzen, wie ihn Verfassungen etlicher europäischer Staaten kennen. Als erster hat Thomas Cottier einen neuen Artikel 54bis BV vorgeschlagen, wonach sich die Eidgenossenschaft am Prozess der europäischen Integration beteiligt und eine vertiefte Beteiligung namentlich am Binnenmarkt anstrebt.

  • Mehrere Varianten zur Ergänzung von Artikel 54 BV über die auswärtigen Angelegenheiten stellt Matthias Oesch zu Debatte: «[Der Bund] wirkt am Prozess der europäischen Integration mit. Er strebt eine aktive und enge Zusammenarbeit mit der Europäischen Union an.» Die Formulierung kann modular erweitert werden, etwa durch die Erwähnung des Europarates und der EMRK.


Anders liegen die Dinge, wenn man das bilaterale Verhältnis mit der Union gar nicht weiterführen will. SVP-Exponenten sprechen neuerdings davon, per Verfassungsinitiative eine Kündigung des Freizügigkeitsabkommens und damit der Bilateralen I zur Abstimmung zu bringen. Der Vorschlag ist insofern zu begrüssen, als er ohne Umschweife zur Sache kommt. Wer den nach dem EWR-Nein eingeschlagenen Weg verlassen will, steht allerdings in der Pflicht, eine glaubwürdige und mutmasslich mehrheitsfähige Alternative aufzuzeigen.

Für die eidgenössischen Räte kommt die Stunde der Wahrheit sofort nach der Sommerpause. Alle Kräfte, denen an funktionierenden Beziehungen zu unserem mit Abstand wichtigsten Partner gelegen ist, werden sich rasch auf einen gemeinsamen Lösungsansatz verständigen müssen. Dieser muss nicht nur verfassungsrechtlich hieb- und stichfest sein, sondern zugleich aussenpolitisch realistisch und innenpolitisch erfolgversprechend.

Ob der nächste Urnengang in dieser Sache eine Referendumsabstimmung sein wird oder einen Eingriff in die Bundesverfassung betrifft: Es wird das Zusammenstehen aller konstruktiven Kräfte brauchen, soll es nicht in einem Scherbenhaufen enden. Und es wird Zeit brauchen, eine Konsenslösung dem Stimmvolk zu vermitteln. Es gilt also, keine Zeit mehr zu verlieren.