Kolumne

Bilateralismus über alles

von Martin Gollmer* | März 2023
Der Bilateralismus zwischen der Schweiz und der EU ist nicht der „Königsweg“ der schweizerischen Europapolitik, für den ihn viele halten. Er hat auch gewichtige Nachteile. Deshalb sollten Alternativen – etwa ein Beitritt zum EWR oder zur EU – ebenfalls ausführlich erörtert und breit diskutiert werden.

Seit vergangenem Dezember sind nicht weniger als vier Berichte und Studien zur schweizerischen Europapolitik publiziert worden. Sie stammen vom Bundesrat („Lagebeurteilung Beziehungen Schweiz-EU“), von der Arbeitsgruppe Fairer Bilateralismus („Ein neues Narrativ zum Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU“), von der aussenpolitischen Denkfabrik foraus („Für einen bilateralen Pakt Schweiz-EU“) sowie vom Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik an der Uni Luzern und Partnerinstituten („Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und der EU: Quantitative Bewertung unterschiedlicher Szenarien der zukünftigen Zusammenarbeit“).

Fünf Schwachstellen

Alle diese Berichte und Studien favorisieren in der einen oder anderen Form den Bilateralismus zwischen der Schweiz und der EU. Diese Phalanx pro Bilateralismus ist fast schon beängstigend. Er scheint alternativlos zu sein. Doch ist der Bilateralismus mit der EU wirklich der „Königsweg“ der schweizerischen Europapolitik, für den ihn scheinbar alle halten? Zweifel sind angebracht. Denn dieser Weg hat nicht nur Vorteile, sondern auch Nachteile. Das geht gerne vergessen oder wird ausgeblendet. Deshalb hier die wichtigsten Schwachstellen des Bilateralismus:

  • Das Verständnis der EU und ihrer 27 Mitgliedstaaten für den bilateralen Sonderweg der Schweiz hat spätestens mit der grossen Süd-Osterweiterung 2004/2007/2013 abgenommen. Die europäischen Staaten, die damals der EU beigetreten sind, konnten alle nur ganz beschränkt von Ausnahmen und Sonderregelungen profitieren. Dementsprechend klein ist heute ihre Bereitschaft, der Schweiz solche zuzugestehen. Die EU hat denn auch noch immer nicht gesagt, ob sie auf das vor mehr als einem Jahr unterbreitete Verhandlungsangebot der Schweiz zur Fortsetzung des bilateralen Wegs eintreten will. Dies nach inzwischen nicht weniger als acht Sondierungsrunden auf Ebene der Chefunterhändler. Die aussenpolitische Machbarkeit der Fortführung des bilateralen Wegs ist somit – Stand Mitte März 2023 – weiterhin unklar.

  • Wenn der Bilateralismus denn überhaupt erhalten, fortgesetzt und ausgebaut werden kann, besteht die EU auf für die Schweiz schwierigen institutionellen Regelungen bei der Rechtsübernahme und bei der Streitschlichtung: EU-Recht soll dynamisch übernommen werden (will wohl heissen: automatisch, ohne weitere Verhandlungen). Und im Fall von Konflikten soll der Europäische Gerichtshof (EuGH) das letzte Wort haben.

  • Der Bilateralismus kann nicht endlos mit weiteren Verträgen ausgebaut werden. Irgendwann wird die EU genug haben von der Rosinenpickerei der Schweiz.

  • Es gibt weiterhin keine Mitbestimmung für die Schweiz bei EU-Recht, das aufgrund der bilateralen Verträge übernommen werden muss. Dieses wird von der EU in Brüssel (Ministerrat) und Strassburg (Parlament) allein gesetzt. Zusätzlich übernimmt die Schweiz auch autonom EU-Recht – wiederum ohne bei dessen Erlass mitentscheiden zu können. Dieser Nachvollzug von EU-Recht hat beachtliche Ausmasse erreicht: Gemäss Studien sollen zwischen 40 und 60 Prozent der schweizerischen Gesetze direkt oder indirekt durch EU-Recht beeinflusst sein. „Die Schweiz hat die Rechtsetzung in durchaus relevanten Bereichen faktisch an die EU delegiert“, schreibt der Europarechtsprofessor Matthias Oesch dazu in seinem Buch „Der Beitritt der Schweiz zur Europäischen Union“ Das ist demokratie- und staatspolitisch äusserst problematisch. Die Schweiz tritt mit diesem Nachvollzug nämlich Souveränität an die EU ab.

  • Der Bilateralismus gibt keine Antworten auf die aussen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Herausforderungen, vor denen die Schweiz angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine steht. Auch hier agiert die Schweiz im Schlepptau der EU, wie etwa der Nachvollzug der verschiedenen Sanktionspakete der EU gegen Russland zeigt. Das verdeutlicht: Diese Herausforderungen lassen sich wahrscheinlich nur gemeinsam mit der EU bewältigen. Wahrscheinlich ist auch mindestens eine weitere Annäherung an das nordatlantische Verteidigungsbündnis Nato notwendig. Weitere Bereiche, in denen der Bilateralismus keine Lösungen parat hat, sind etwa der Schutz des Klimas oder die Sicherstellung der Energieversorgung. Auch hier scheint ein gemeinsames Handeln der Schweiz mit der EU ratsam, wenn nicht gar unausweichlich.


Angesichts dieser Schwachstellen erstaunt es, dass Alternativen zum Bilateralismus –etwa ein Beitritt zum EWR oder zur EU – in diesen Berichten und Studien wenn überhaupt nur der Form halber und summarisch erörtert werden. Dabei haben diese Alternativen nicht nur Nachteile gegenüber dem Bilateralismus, sondern auch Vorteile. Die Alternativen verdienten es deshalb ebenfalls, vertieft analysiert und dargestellt und so einer breiten öffentlichen Diskussion zugänglich gemacht zu werden. Nur so ist eine umfassende Meinungsbildung zur schweizerischen Europapolitik möglich.

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* Martin Gollmer ist ehemaliger EU-Korrespondent des Tages-Anzeigers in Brüssel und Buchautor. Aktuelle Publikation: „Plädoyer für die EU. Warum es sie braucht und die Schweiz ihr beitreten sollte“, NZZ Libro, Basel 2022.