Editorial

Brexit als Lehrstück – auch für die Schweiz

von SGA-Vizepräsident Rudolf Wyder | Dezember 2018
Eine strategische Weichenstellung ohne vorherige Klärung der effektiven Optionen und der Konsequenzen – das Brexit-Drama macht vor, wie man es besser nicht macht.

Zweieinhalb Jahre nach dem unerwarteten Urnenverdikt vom 23. Juni 2016 nimmt der Brexit Gestalt an. Die «Scheidungskonvention» liegt auf dem Tisch. In trockenen Tüchern ist der Deal deshalb noch lange nicht. Weder ist in Westminster eine parlamentarische Mehrheit für den Austrittsdeal in Sicht, noch ist klar, wie die künftigen Beziehungen zwischen Grossbritannien und der Union aussehen sollen. Erst recht nicht abzusehen ist, wie sich die Operation längerfristig auf das nicht mehr so vereinigte Königreich und die um eines ihrer wichtigsten Mitglieder amputierte EU auswirken wird. Was nicht gemeint war, was niemand will, was nicht machbar ist, wird immer deutlicher. Wohin jedoch die Reise gehen soll, was London wirklich will und kann, liegt weiterhin im Nebel.

Auch wenn einige auf der Insel das anders sehen: Dem unbefangenen Beobachter erscheint der Austrittsvertrag konsequent und fair. Auf EU-Seite hat man der Versuchung widerstanden, Rache zu nehmen für den leichtfertig geführten schweren Schlag. «We will remain friends until the end of days, and one day longer», erklärte EU-Ratspräsident Donald Tusk pathetisch. Dass die Union ihre Prinzipien verteidigt und an ihrem Acquis festhält, kann ihr niemand verargen. Wer aus einem fahrenden Zug aussteigt, kann nicht erwarten, dass ihm der Fahrpreis zurückerstattet wird. Erworbene Rechte – etwa der 3 Millionen EU-Bürger im UK und reziprok der Million Briten auf dem Kontinent – gehören honoriert. Für die neu entstehenden EU-Aussengrenzen – Irland, Gibraltar – braucht es Regelungen, die Konflikten dauerhaft vorbeugen. Clubvorteile wie Binnenmarkt und Zollunion stehen Nichtmitgliedern nicht bedingungslos offen. All dies hätte man voraussehen können und voraussehen müssen.

«Brexit means Brexit!» Ok, doch was heisst das wirklich? Theresa Mays oft beschworenes Mantra war nie mehr als eine Leerformel. Gemeint war wohl: Wir ziehen‘s durch, koste es, was es wolle. Aber welches die Modalitäten und Konsequenzen des Austritts sind, blieb stets offen und heftig umstritten: Beitritt zum EWR? Zu viel Souveränitätseinbusse, zu wenig Mitsprache. Marktzugangsabkommen nach Schweizer Muster? Doch dazu gehört Personenfreizügigkeit. Freihandelsabkommen nach ukrainischem oder nach kanadischem Vorbild? Zu schmalspurig. Zollunion à la Türkei? Aber man wollte doch die Treaty making power zurückgewinnen. Austritt ohne Abkommen und Handel nach WTO-Standard? Ein garantierter Crash. Was also? An der grossen Ratlosigkeit würde weder ein Sturz der Premierministerin noch eine Neuwahl etwas ändern. Ein zweites Referendum könnte die aufgerissenen Gräben noch vertiefen. Mehrheiten gibt es derzeit nur in der Ablehnung, nicht aber zugunsten der einen oder anderen Lösung. Manch einer wird sich wohl fragen, nicht warum, aber wozu man die Notbremse betätigt hat, wenn doch nur schlechtere Alternativen im Angebot sind.

In verstörender Kumulation zeigt der Brexit-Prozess

  • einen Sprung ins Leere, d.h. eine strategische Weichenstellung ohne vorherige Klärung der effektiven Optionen und Alternativen, Implikationen und Konsequenzen;

  • eine institutionelle Anomalie, nämlich eine direktdemokratische Eskapade in einem auf Parlamentssouveränität beruhenden System;

  • eine bemerkenswerte Verwirrung unter konzept- und hilflosen politischen Akteuren und die mutwillige Spaltung der Nation;

  • die Unterschätzung der internationalen Verflochtenheit, etwa in Form transnationaler Wertschöpfungsketten und Kooperationen (Autoproduktion, Airbus, Galileo als Beispiele);

  • eine flagrante Schwäche der Verhandlungsposition, indem zuhause zerredet wird, was extern vielleicht erreichbar wäre, und am Verhandlungstisch undurchsetzbar ist, was intern allenfalls mehrheitsfähig wäre;

  • ein antiquiertes Souveränitätsverständnis, das auf Abkapselung setzt statt auf Mitgestaltung dort, wo im Verbund Globalisierung gesteuert werden kann;

  • eine gehörige Dosis politischer Nostalgie.


Man reibt sich die Augen, sieht man, in welche Schieflage sich das stolze Albion ohne Not gebracht hat. Dabei ist die Rückkehr in die «splendid isolation», selbst wenn sie bloss Intention bleiben sollte, nicht allein ein britisches Problem. Es ist nicht weniger als die Absage einer der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges an die kontinentale Neuordnung auf der Basis von Integration. Eine nicht geringe Hypothek für das anbrechende asiatische Zeitalter!

Brexit als Lehrstück? Für politische Akteure aller Breitengrade bietet das Drama reichlich Anschauungsunterricht. Das gilt gerade auch für uns Schweizer. Wohl unterscheidet sich der Fall Schweiz grundlegend von jenem des Vereinigten Königreichs. Dieses laboriert an einer Scheidung, jene möchte das Konkubinat weiterführen, ohne sich weiter verpflichten zu müssen. Und doch gibt es augenfällige Gemeinsamkeiten: Beide können auf den Zugang zum europäischen Binnenmarkt nicht verzichten. Beide navigieren ohne strategischen Kompass, jedenfalls ohne Konsens über die Marschrichtung. Beide kennen mehr hausgemachte, subjektive Widerstände als objektive Probleme im Verhältnis zur EU. Dem Brexit-Drama entspricht das Trauerspiel um ein Rahmenabkommen Schweiz-EU.

Mit der erfreulich klaren Ablehnung der «Selbstbestimmungsinitiative» hat der Schweizer Souverän soeben ein kostspieliges Eigentor abgewendet. Doch die nächsten Prüfungen stehen schon an: Wollen wir uns wegen Retouchen am Waffenrecht aus Schengen/Dublin zurückziehen? Soll das Personenfreizügigkeitsabkommen gekündigt werden, mit allen absehbaren Folgen? Wollen wir uns Kohäsionszahlungen ersparen, zum Preis, uns definitiv das Odium des Trittbrettfahrers einhandeln? Wollen wir den Zugang zum Binnenmarkt längerfristig aufs Spiel setzen, indem wir uns der Regelung institutioneller Fragen verweigern? Schweizerinnen und Schweizer sind nicht als direktdemokratische Zauberlehrlinge bekannt. Dennoch ist ein Ausreisser stets möglich. Geht der Krug oft genug zum Brunnen, kann er mal Schaden nehmen.

Nur eines hilft da: ein klarer aussenpolitischer Kompass. Wichtiger als die Definition roter Linien ist allemal die Frage: Wohin wollen wir eigentlich? In komprimiertester Form lautet die Brexit-Lektion: Konzeption statt Kurzschluss. Der Wahn pflegt kurz zu sein, die Reue lang.