Kolumne

Brexit – ein Hochrisiko-Unternehmen

von Anton Thalmann | März 2017
Grossbritannien hat nun den im Prinzip irreversiblen Prozess des Austritts aus der Europäischen Union formell eingeleitet. Die Folgen sind kaum optimistisch einzuschätzen – weder aus britischer noch aus schweizerischer Sicht.  

Eine tiefgreifende populistische Welle rollt zur Zeit über die westliche Welt. Die häufigste Erklärung dafür sind die Globalisierung und der mit ihr einhergehende Strukturwandel, der Gewinner und Verlierer erzeugt. Auch der Brexit – d.h. der bevorstehende Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU – wird gemeinhin mit diesem Phänomen erklärt. Die Schweiz, wo gelegentlich so etwas wie Schadenfreude über die Schwierigkeiten des ungeliebten Gebildes EU aufkommt, ist davon ebenfalls direkt betroffen. Europa, Nordamerika und Ostasien sind heute so interdependent wie nie zuvor. Auch die übrige Welt ist über multilaterale Organisationen und Regeln in die Zusammenarbeit mit dem Westen eingebunden. Unterschiedlich ist allerdings der demokratische Grad der Freiheit, mit der sich diese Bewegung rund um den Globus äussern kann.

Eigentümlich erscheint – aber nur auf den ersten Blick – die besondere britische Variante dieses Aufbäumens gegen die europäische Ordnung, in der sich das stolze Königreich über die Jahrzehnte seiner Mitgliedschaft doch wirtschaftlich recht erfolgreich eingerichtet hat. Gerade die Schweiz, welche wegen der direkten Demokratie ein gutes Sensorium für solche Entwicklungen hat und ebenfalls von Populismus geplagt wird, weist stimmungsmässig auffallende Parallelen zu Grossbritannien auf. Als früherer Botschafter in London war der Schreibende vom Entscheid der Briten nicht überrascht. Zuviel war ihm in dieser Zeit von Einheimischen aus allen Gesellschaftsschichten, intellektuellen und beruflichen Kreisen über die angeblichen Fehler der EU lamentiert worden.

In der Schweiz hat das Sonderfalldenken, hervorgegangen aus erfolgreicher unabhängiger Selbstbehauptung im Lauf der Geschichte, eine ähnliche Unlust an Europa hervorgebracht wie im UK. Dabei ist die Schwierigkeit, der Bevölkerung die Bedeutung der multilateralen internationalen Zusammenarbeit verständlich zu machen, wie wir sie hierzulande aus zahlreichen Abstimmungen kennen, von zentraler Wichtigkeit. In beiden Ländern ist das interessenbezogene Abwägen vor aussenpolitischen Entscheidungen aber keine Garantie gegen das gelegentliche Obsiegen wirtschaftlicher Unvernunft. Es kann gut sein, dass Premierminister Cameron, wenn er über die historische Erfahrung der Schweiz verfügt hätte, sein EU-Referendum hätte sein lassen, statt als der Premier in die Geschichte einzugehen, der das UK aus der EU herausgeführt hat.

Bei allem Verständnis für das britische Bedürfnis nach identitärer Selbstbestätigung sind die wirtschaftlichen, aber auch politischen Schwierigkeiten, die sich die Briten mit diesem Entscheid aufgebürdet haben, nicht zu verkennen. Hinsichtlich der Möglichkeit, dem ungleich grösseren Partner EU in den nun beginnenden Verhandlungen entscheidende Zugeständnisse, namentlich bezüglich des weiteren Zugangs zum «single market», abzuringen, herrschen in gewissen Kreisen nicht nur realistische Vorstellungen. Die oft gehörte Aussage, auch aus Regierungskreisen, dass gar kein Brexit-Deal besser sei als ein schlechter, zeugt zweifellos von einer gewissen Hybris.

Die Optionen, die sich dem UK anbieten, sind nicht sehr zahlreich und weisen aus britischer Sicht grosse Nachteile in Sachen Bewahrung der eigenen Souveränität, vor allem im Migrationsbereich, auf. Zudem hat die konservative Regierung – wohl etwas vorschnell – verkündet, einen «harten Brexit», d.h. einen solchen unter Austritt aus dem «single market», anzustreben. Damit fällt das häufig angerufene, auf den EWR gestützte «norwegische Modell» (mit Zutritt zum «single market», aber unter Inkaufnahme der Personenfreizügigkeit) weg. Auch die Schweiz taugt wohl nur beschränkt als Vorbild, denn die sektoriellen Abkommen, die sie mit der EU – unter Wahrung der Personenfreizügigkeit – unterhält, sind allzu stark auf die kleine Schweiz zugeschnitten, als dass sie einfach auf das UK übertragen werden könnten. Und die EFTA deckt als kleine Freihandelsorganisation zu wenig von den für ein ausgetretenes UK wichtigen Beziehungen zu Resteuropa ab. Vor der Vorstellung einer «Allianz» UK-Schweiz als Vehikel zur Neutralisierung der «Zumutungen» der EU sei gewarnt.

Überhaupt wiegt das UK wegen seiner wirtschaftlichen, aber auch politischen Bedeutung (Sitz im Sicherheitsrat, Besitz von Atomwaffen, führendes Mitglied der Nato, Zugehörigkeit zu zahlreichen weltwirtschaftlichen Führungsgremien usw.) ungleich schwerer als die Schweiz. Dies kann an sich verhandlungstaktisch sowohl ein Vor- wie ein Nachteil sein. Aber die Angst der EU vor Präzedenzfällen in ihrem zentrifugaler gewordenen Mitgliederkreis erschwert die Einigung auf grosszügige Konzessionen an die Briten (wie umgekehrt auch an die Schweiz bei deren eigenen weiteren Verhandlungen mit der EU).

Schliesslich ist da auch noch das Problem von Sezessionsgelüsten; zunächst im UK selber, wo vor allem die Schotten ein zweites Unabhängigkeitsreferendum anstreben und das neue «beinahe-Patt» in Nordirland zwischen den Loyalisten und den mit der Wiedervereinigung mit der Republik Irland sympathisierenden Parteien die Dinge ebenfalls kompliziert. Auf der Gegenseite wiederum fürchtet ein Land wie Spanien auch das kleinste Präjudiz in Richtung Unabhängigkeit für Katalonien oder das Baskenland und würde gegen eine Aufnahme Schottlands als unabhängiger Staat in die EU sicher sein Veto einlegen. Es wird für die Briten sicher kein Spaziergang. Der Austritt des UK aus der EU ist für die Beteiligten ein Hochrisiko-Unternehmen mit ungewissem Ausgang. Es wird von allen Seiten grosse Kompromissbereitschaft brauchen, um es nicht entgleisen zu lassen.

Alt Botschafter Anton Thalmann war an mehreren Auslandposten Missionschef, zuletzt in London.