Lesetipp

«Démocratie directe contre droit international»

von Daniel Brühlmeier | Januar 2018
Die Schweiz leidet an der doppelten und oft widersprüchlichen Verpflichtung zur direkten Demokratie und zur Einhaltung internationaler Verträge. Der damit eng vertraute Denis Masmejan zeichnet Geschichte und mögliche Lösungen.

Wie kommt es, dass Volksinitiativen, die das Völkerrecht verletzen, Volk und Ständen vorgelegt werden? Wie ist es zu rechtfertigen, dass sie – einmal angenommen – nur unvollständig umgesetzt werden? Soll sich das Bundesgericht dazu äussern? Diese Fragen analysiert der Jurist und langjährige Fachjournalist Denis Masmejan (früher für «Le Nouveau Quotidien», später für «Le Temps») sowohl in ihrer juristischen Komplexität als auch politischen Brisanz.

Von Rheinau bis MEI
Masmejan folgt einer historischen Darstellung in zwei Strängen. Der erste, eher juristische, beginnt mit dem Sündenfall der Rheinau-Initiative von 1954. Sie war die erste, die trotz Verstosses gegen internationales Vertragsrecht Volk und Ständen zur Abstimmung unterbreitet wurde. Es folgten eine Reihe von teilweise internationales Recht verletzenden Initiativen, die abgelehnt wurden, bis die Alpeninitiative 1994 im weitherum geteilten Bewusstsein, das Transitabkommen zu verletzen, angenommen wurde. Der Bundesrat fand aber eine eurokompatible und nichtdiskriminierende Umsetzung.

Einen Meilenstein bildete die Ratifikation des Beitritts zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten  (EMRK) von 1974. Die Schweiz musste zuerst die konfessionellen Ausnahmeartikel in der BV streichen und in mehreren Anläufen das Frauenstimmrecht einführen. Masmejan zeichnet hier, wie überhaupt im ganzen Buch mit lockerer Hand, aber sicher und kenntnisreich die wichtigsten Begebenheiten und Fälle nach.

Die EMRK war aber auch Stein des Anstosses – und bleibt es bis heute. Das bildet den zweiten Strang dieser Geschichte: der Aufstieg der SVP, die damit einhergehende Polarisierung der Politik sowie deren souveränistische Agenda. Die EWR-Abstimmung vom 6. Dezember 1992 war so etwas wie die «Geburt einer Rhetorik» (5. Kap.). Zwar gehörten die «fremden Richter» und «Vögte» schon lange zum rechtsnationalen (Otto Fischer) und –extremen (James Schwarzenbach) Vokabular der Schweiz, aber sie feierten nun Urständ und gingen ins Standardrepertoire der SVP- und Albisgütlireden ein, komplementiert auf der Ebene der Zuwanderung durch schwarze Schafe, die es aus der Schweiz rauszukicken gilt, und – so darf man ergänzen – Schweizer-aufschlitzende Kosovaren.

Die 1990er Jahre brachten aber auch Bewegung auf der juristischen Seite: 1994 wurde die Volksinitiative «für eine vernünftige Asylpolitik» der Schweizer Demokraten (SD) wegen der Verletzung des non-refoulement-Prinzips des Völkerrechts für ungültig erklärt; eine Volksabstimmung darüber wäre, so der Bundesrat, einer «Pervertierung der demokratischen Ordnung» gleichgekommen.

Angeführt durch die Rechtslehre, mit Jean-François Aubert wohl nicht der geringsten und bezüglich Volksrechte völlig unverdächtigen Autorität, schuf sich darauf gestützt ein neues Einverständnis, das im Vorbehalt der «zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts» (Art. 139 Abs. 3 BV) der nachgeführten Bundesverfassung von 1999 gipfelte. Das war auf den ersten Blick ein spektakulärer Schritt – umso mehr, als der Bundesrat sukzessive auch noch die «notstandsfesten Garantien» der EMRK darunter begreift. Doch er zeigte kaum Wirkung. Die SVP verletzte darauf mit ihren Initiativtexten weitere Vertragsbestimmungen.

Es folgte die unrühmliche Reihe von Initiativen, die trotz bewusster Verletzung internationalen Rechts die Zustimmung von Volk und Ständen und damit Aufnahme in die BV fanden: Verwahrungsinitiative 2004, Minarett-Initiative 2009, Ausschaffungsinitiative 2010 und die Masseneinwanderungsinitiative (MEI) 2014. Diese bildet «den Gipfel der Verwirrung», mit den grössten Umsetzungsschwierigkeiten, wegen den textlichen Widersprüchen, einiger interpretativen Pirouetten sowohl der Initianten wie des Bundesrates, und schliesslich eines vom Parlament durch die Schleudertrommel gelassenen Verfassungsartikels (Masmejan braucht die originelle und starke Metapher zweimal!) - dergestalt, dass das gewaschene kaum noch Ähnlichkeit mit dem Ausgangsprodukt teilt und Masmejan zweifeln lässt, ob der Begriff «Umsetzung» noch angemessen ist. Noch nie seien eine Umsetzung und deren Verfassungsartikel soweit auseinandergelegen, und das Parlament hat es verpasst, mit einem Gegenvorschlag zur RASA-Initiative die Verfassungssituation einigermassen zu bereinigen.

Lösungen und Scheinlösungen
Der Bundesrat unternahm zwar in seinen Berichten zu Beginn dieses Jahrzehnts viel Schreib- und Gedankenarbeit, wie etwa über die Vorprüfung in unterschiedlicher Verbindlichkeit u.a.m. Sie führten aber zu keinem konkreten Resultat. Auch zwei Think-tanks beteiligten sich: Avenir Suisse mit der Idee eines obligatorischen Referendums für Umsetzungsgesetze, oder foraus, mit dem Vorschlag, von der Vermutung auszugehen, Volksinitiativen wollen im Einklang mit den völkervertragsrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz umgesetzt werden, sofern ihr Wortlaut nicht explizit anders lautet, also nicht die Kündigung der entsprechenden Verpflichtungen verlangt, und: bei einer völkervertragsrechtswidrigen Volksinitiative eine gleichzeitige Abstimmung vorsieht  über die Kündigung der ihr widersprechenden völkerrechtlichen Verträge. Von all diesen genannten Vorschlägen überzeugt den Autor nur der von foraus wirklich. An der nun bald 20 Jahre dauernden Lähmung vermochten sie aber nichts zu ändern.

In nicht ferner Zeit wird über die sogenannte Selbstbestimmungsinitiative: «Schweizer Recht statt fremde Richter» abgestimmt werden. Sie ist der Abschluss des jahrzehntelangen Kampfes gegen die «fremden Richter» und würde das Primat des Landesrechts vor dem Völkerrecht festschreiben. Im Visier sind auch die bestehenden internationalen Verträge, die im Falle eines Widerspruches mit der BV notfalls gekündigt werden müssten, ja vielleicht ist sogar die EMRK, obwohl ungenannt, die Hauptzielscheibe des ganzen Unterfangens.

Die Initiative würde einige bereits heute gültige Festschreibungen bringen  – etwa, dass die BV «die oberste Rechtsquelle der Schweizerischen Eidgenossenschaft» ist, den Vorbehalt der zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts und die heute bereits bestehende Praxis, dass «Bund und Kantone keine völkerrechtlichen Verpflichtungen ein[gehen], die der Bundesverfassung widersprechen».

Sie ist aber in wesentlichen Teilen unklar und widersprüchlich: Mit dem neuen Art. 190 schüfe sie zwei Typen von völkerrechtlichen Verträgen (mit oder ohne Referendumsunterstehen), im Falle der EMRK, deren Genehmigungsbeschluss nicht, einzelne Protokolle aber schon, dem Referendum unterstanden haben, unterschiedlich massgebende Teile eines einzelnen Vertrags. Unklar ist etwa auch, ob das offensichtlich unbestrittene Freihandelsabkommen mit den Europäischen Gemeinschaften (heute EU) von 1972 in seiner ursprünglichen, von Volk und Ständen genehmigten Form «massgebend» ist, die späteren Änderungen via Protokolle, diplomatische Noten, Beschlüsse der gemischten Ausschüsse usw. aber nicht.

Auch diese Initiative würde Rechtsunsicherheit schaffen. Sie wird vor allem zum Vehikel, die «classe politique» der Untätigkeit, Unfähigkeit oder Verachtung der Volksrechte anzuklagen.

Was ist zu tun? Für den Autor ist der im Buchtitel formulierte Konflikt kein Fachdiskurs, sondern «tief politisch». In der Pflicht sind die politischen Akteure: Bundesrat, Parlament, Parteien. Das würde damit beginnen, dass man Transparenz schafft, «die Lesbarkeit dort wiederherzustellen, wo man die Konfusion hat Einzug halten lassen». Dass Handlungsbedarf besteht, dafür liefert das Buch eindeutige Belege.

Denis Masmejan, Démocratie directe contre droit international, Collection Le savoir suisse, Presses polytechniques et universitaires romandes, Lausanne 2017, 157 S., CHF 17.50