Kolumne

Der EWR ist von gestern, nicht für morgen

von alt Nationalrat Hans-Jürg Fehr | April 2023
Vor dreissig Jahren wäre der Beitritt der Schweiz zum Europäische Wirtschaftsraum EWR eine gute Lösung gewesen. Das Stimmvolk wollte nicht. In jüngster Zeit wird er von gewissen politischen Kreisen wieder propagiert. Aber heute wäre er eine schlechte Lösung.

Ich erinnere mich gut an den Vortrag des damaligen norwegischen Botschafters in der Schweiz vor der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats. Das skandinavische Land hatte Bilanz gezogen nach zehnjähriger Zugehörigkeit zum EWR, und die trug der Botschafter vor. Er schloss sein Referat mit dem Satz: «Die Zugehörigkeit zum EWR ist für Norwegen in wirtschaftlicher Hinsicht eine Erfolgsgeschichte, in demokratischer Hinsicht eine Katastrophe». Solche Sätze bleiben im Gedächtnis haften und machen sich bemerkbar, wenn eine neue EWR-Diskussion aufkommt.

Auf den ersten Blick ist gut nachvollziehbar, dass beim gegenwärtigen Stand des Verhältnisses zwischen der EU und der Schweiz alle Optionen ins Gespräch gebracht werden, die zur Verfügung stehen. Der EWR-Beitritt ist eine von dreien, neben dem EU-Beitritt und der Fortsetzung des Bilateralismus. Er wird meines Erachtens aber ziemlich unreflektiert favorisiert und schon gar nicht konfrontiert mit dem zweiten Teil des norwegischen Diktums. Das sollte man aber tun, denn in den vergangenen dreissig Jahren hat sich viel geändert im Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union und innerhalb der EU.

Die EU besteht heute aus 27 Mitgliedstaaten. Zum Zeitpunkt des EWR-Neins im Dezember 1992 waren es nicht einmal halb so viele, bald werden es noch einige mehr sein. Die EU hat ein Parlament, dessen Bedeutung stetig wächst. Damals hatte sie keines. Allen internen Widersprüchen und Konflikten zum Trotz ist die europäische Integration weiter fortgeschritten. Sie hat als Folge der Finanzkrise von 2008 an Tiefe und Breite gewonnen und wird nun in Konsequenz des russischen Krieges gegen die Ukraine nochmals an Tiefe und Breite gewinnen. Das sind bedeutsame Veränderungen, weil sie in der Quintessenz besagen, dass die EU gegenüber den Mitgliedstaaten spürbar an Macht zugelegt hat und weiter zulegen wird. In umgekehrter Schlussfolgerung: Die Nationalstaaten müssen deutlich mehr Regulierungen übernehmen, die in Brüssel entschieden worden sind und nicht in ihren Hauptstädten. Die nationale Selbstbestimmung hat Boden verloren, die internationale Mitbestimmung gewonnen.

EWR heisst Souveränitätsverlust

Die Zugehörigkeit zum EWR bedeutet, dass man alle Regulierungen der EU, die den Binnenmarkt betreffen, telquel übernehmen muss, ebenso alle Regeländerungen. Im EWR wird automatisch nachvollzogen, was andere beschlossen haben. Mitbestimmung für die EWR-Staaten gibt es nicht, nur Mitsprache in der Gesetzesvorbereitung. Das ist der Grund, warum der norwegische Botschafter damals von einer «demokratischen Katastrophe» sprach. In einem Staat wie der Schweiz, der sich besonders viel einbildet auf seine Demokratie, muss das hellhörig machen. Es führt nichts an der Feststellung vorbei, dass der Beitritt zum EWR einen markanten Souveränitätsverlust zur Folge hätte. Anders beim Beitritt zur EU. Da muss man zwar auch alle beschlossenen Regeln automatisch übernehmen, aber da sitzt man nicht als Passivmitglied im Wartezimmer, sondern als Aktivmitglied am Tisch, an dem die Entscheidungen getroffen werden. Ein EU-Mitglied kompensiert den nationalen Selbstbestimmungsverlust mit dem internationalen Mitbestimmungsgewinn. Souveränität wird nicht ersatzlos verloren, sondern aufgewogen. Das ist hinsichtlich der Souveränitätsfrage ein entscheidender Unterschied und kann nicht einfach weggebügelt werden mit dem Hinweis, als Kleinstaat habe man in der EU sowieso nichts zu sagen. Dem ist dreierlei entgegen zu halten:

  • Erstens ist die Schweiz kein Kleinstaat bezüglich Wirtschaftsleistung, sondern stünde innerhalb der EU auf Platz 6 von 27.

  • Zweitens ist die Hälfte der EU-Mitgliedsländer bezüglich Bevölkerungszahl kleiner als die Schweiz

  • und drittens gibt es in der EU einen Minderheitenschutz, der weitergeht als derjenige in der Schweiz mit Ständerat und Ständemehr - das partielle Einstimmigkeitsprinzip.


Das Argument ist aber ganz grundsätzlich ziemlich wertlos, denn in demokratischen Strukturen zählt die Mehrheit, und die muss immer wieder neu gesucht und gebildet werden. Gefragt ist die Kernkompetenz, Koalitionen zu schmieden. Das müsste eigentlich allen einleuchten, die mit dem politischen System der Schweiz vertraut sind, funktioniert es doch bei uns genauso. Wenn die Schweiz etwas gemeinsam hat mit der EU, dann ist es die ausgeprägte Fähigkeit zum Kompromiss.

EuGH auch im EWR massgebend

Die Anhänger eines EWR-Beitritts sollten sich auch bezüglich Gerichtsbarkeit nichts vormachen. Es stimmt zwar, dass es im EWR einen eigenen Gerichtshof gibt. Aber zu meinen, damit habe man sich dem hierzulande vielgeschmähten Europäischen Gerichtshof EuGH entzogen, ist ein Irrtum. Der EWR-Gerichtshof muss sich in allen Streitfällen, die den Binnenmarkt betreffen, an Urteilen des EuGH orientieren beziehungsweise solche übernehmen. Die Selbständigkeit der Justiz entpuppt sich als Scheinselbständigkeit, der vermeintliche Pluspunkt gegenüber einer EU-Mitgliedschaft löst sich in Luft auf. Das sieht auch die Konferenz der Kantonsregierungen so, die in ihrer jüngsten Standortbestimmung zur Europapolitik (Link Artikel) des Bundesrates unter dem Stichwort «Streitbeilegung» nüchtern festhält: «Sofern Streitigkeiten die Auslegung und Anwendung des von der Schweiz übernommenen EU-Rechts betreffen, können die Kantonsregierungen eine Lösung akzeptieren, bei welcher dem EuGH die Aufgabe zukommt, eine kohärente Auslegung des betroffenen EU-Rechts sicherzustellen».