Lesetipp

Deutsche Aussenpolitik vom Wiener Kongress bis Angela Merkel

von Daniel Brühlmeier | Januar 2022
Die zweibändige Darstellung von Gregor Schöllgen beleuchtet Höhen und, mit 1933-45, höllische Tiefen der deutschen Aussenpolitik. Angela Merkel nimmt in der vereinigten Bundesrepublik eine bedeutende Stellung ein.

Das Werk des gleichermassen prägnant wie zuweilen notorisch spitz formulierenden Autors präsentiert sicher und mit einem von Urteilskraft geschärftem Blick auf insgesamt 570 Seiten Jahreszahlen und Ereignisse, aber auch strukturelle Rahmenbedingungen von rund 200 Jahren. Vor allem für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist dies «aus den Quellen gehoben», d.h. den Akten des Auswärtigen Amtes, an dessen vorbildlicher Edition der Autor selbst während mehrerer Jahre federführend mitbeteiligt war.

Die "Ära Merkel" in der deutschen Aussenpolitik

Beginnen wir am Ende: Zwar stoppen die Ausführungen Schöllgens im Erscheinungsjahr 2013. Es fehlen also bis heute wichtige Ereignisse wie etwa die Annexion der Krim und die Besetzung der Ostukraine, die Flüchtlingskrise oder zuletzt der Afghanistan-Rückzug. Eine aktualisierte Neuauflage wäre reizvoll; so man muss vorläufig die Skizze der Ära Merkel extrapolierend ergänzen. Bei Schöllgen dominiert die sachlich-positive Beurteilung, und es fällt, auch im Vergleich mit anderen Kanzlern, kein negatives Wort (was sich wohltuend abhebt von der herablassenden Arroganz, mit der etwa die NZZ über Jahre ihre rechtskonservative Klientel in Deutschland zu Merkel bediente).

Es herrscht der souveräne Eindruck, bei durchaus vorhandenem «robusten Machtinstinkt». In den zahlreichen Krisen ihrer politischen Karriere, auch in den Demütigungen seitens der USA (nicht nur seitens D. Trumps), zeigte sie mit dem sie «prägenden Stilmix aus Gelassenheit, Understatement und dezenter Ironie», den Klaus Ferdinand Gärditz kürzlich in der FAZ (8.12.21) in einem anderen Zusammenhang festgestellt hat, politisches Format und menschliche Grösse.

Vor allem identifizierte sie europäisches und nationales Interesse und band das Schicksal ihrer Kanzlerschaft an das Schicksal der Zukunft Europas. Spätestens seit Ende 2010 stand für Merkel fest, dass sie, um dieses Ziel zu erreichen, die ihr angetragene Führungsrolle in Europa übernehmen musste. Entsprechend hat sie in und mit der Flüchtlingskrise, wie Herfried Münkler immer wieder betont, Europa «gerettet». Ihr erfolgreicher Einsatz für den Corona-Wiederaufbaufonds der EU ging in die gleiche Richtung.

Zweimal untergegangen und wieder auferstanden

Die Verzahnung des zweibändigen Werks leistet elegant die «Deutsche Frage» je am Anfang der beiden Bände, im ersten Prolog als Aus-, im zweiten als Rückblick, und in beiden Epilogen, einmal als Ausblick in den nächsten Band, und zum Schluss als Synthese. In beiden Bänden steht am Anfang nach Untergängen die Überraschung der nationalstaatlichen (Re)Konstitution, zuerst 1815 am Wiener Kongress von aussen als passiver Ordnungsfaktor einer (britisch geprägten) europäischen Gleichgewichtspolitik, der aber unter Bismarck zu gross, zu ambitiös und letztlich gleichgewichtszerstörend geworden ist.

Ebenso überraschend und fremdbestimmt, «weder geplant noch gar gewollt» war die Gründung der Bundesrepublik nach dem 2. Weltkrieg, als «Antwort der drei Westmächte auf das tatsächliche und vermeintliche Vorgehen ihres vormaligen Verbündeten» Stalin und die von ihm «verantworteten weltpolitischen Verwerfungen». Dieser reagierte mit der Gründung der DDR. Den Deutschen blieb nichts anderes als sich in diese Logik des aufkommenden Kalten Krieges zu schicken. In paradoxer Weise galt es, die Teilung ihres Landes zu akzeptieren, gleichzeitig am Gebot der Wiedervereinigung festzuhalten, aber einen Kurs zu steuern, der den weltpolitischen Realitäten Rechnung trug und sich damit vom Fernziel der Wiedervereinigung geradezu entfernte.

Zu Recht betont Schöllgen auch mehrfach die bemerkenswerte Kontinuität der deutschen Aussenpolitik: in keinem Fall wurde die Weichenstellung eines Vorgängers rückgängig gemacht, wenn der/die neue Kanzler/in von der Opposition in die Regierung wechselte. Auch gibt es resistente strittige Themen: Afghanistan wurde früh als Risiko anerkannt, und das «Erdgas-Röhren-Geschäft» mit Russland ist seit 1970 auf der Traktandenliste und wird immer wieder von sozialdemokratischen Kanzlern weitergebracht. (Bezeichnenderweise fehlt es im aktuellen Koalitionsvertrag; es mag zu Irritationen in der Koalition führen, aber wird letztlich trocken vom Kanzler als Chefsache entschieden werden.)

Wiederum überraschend, ja gar sensationell waren die Entwicklungen 1989/90, die mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag zu einem vereinigten deutschen Nationalstaat führten, der aber so gänzlich verschieden war und ist von demjenigen, der kaum 50 Jahre früher nach der Hybris des nationalsozialistischen Vernichtungs- und Versklavungskrieges zerschlagen wurde. Möglich wurde dies durch die Implosion der Sowjetunion und des Warschauer Pakts; notwendig war dafür – und auf diese oft vergessene Tatsache weist Schöllgen verschiedentlich hin – auch, dass mit dem in Vor- und Rückbewegungen vereinigten (West)Europa ein Gefäss dafür vorhanden war, das dieses Deutschland aufnehmen konnte.

Souveränitätspolitischer Musterknabe

In der Tat: Exemplarisch arbeitete sich Deutschland mit viel aussenpolitischer Beharrlichkeit von einem «Staat zweiter Ordnung» zu einem modernen und vernetzten souveränen Staat hinauf, der allerdings – ebenso exemplarisch – den aus den transatlantischen Sicherheitsinteressen und aus der europäischen Vergemeinschaftung resultierenden (selbst)gewollten Souveränitätsverzicht akzeptierte. (Hier sei im Übrigen angemerkt, dass die sich – nicht erst mit dem Abbruch des Rahmenabkommens – souveränistisch gebärdende Eidgenossenschaft es erst noch lernen muss, sich von der anderen Seite her, ihrem hehren Ideal der Unabhängigkeit und Selbstgenügsamkeit, auf diese heutige Realität vernetzter Staatlichkeit hinzubewegen.)

Die eingangs gestellte Frage nach der Einordnung der Merkelschen Aussenpolitik beantwortet der Verlag im übrigen, vielleicht eher ungewollt, mit den Umschlagabbildungen: auf dem ersten Band ein Bismarck-Fokus aus dem (ungenannt bleibenden) Grossgemälde von Anton v. Werner zum Berliner Kongress von 1878, auf dem zweiten weder Adenauer, noch Brandt, Schmidt oder Kohl, sondern eben die Bundeskanzlerin mit Präsident Obama vor dem Weissen Haus – anzeigend, welcher zeitgenössische Staatsmann ihr allenfalls noch das Wasser gereicht haben könnte, und vielleicht als eines ihrer leisen Vermächtnisse: das Mona Angela-Lächeln.

Gregor Schöllgen: Deutsche Aussenpolitik, Bd. I: Von 1815 bis 1945, Bd. II: Von 1945 bis zur Gegenwart, C.H. Beck, 2013, 283 u. 352 S., Zusammen ca. 31 €