Lesetipp

Die Scheu vor dem politischen Europa

von Christoph Wehrli | Dezember 2015
Der europapolitische Zwiespalt der Schweiz hat seine Geschichte. Ein «Lesebuch» zeigt dies mit Dokumenten und Darstellungen zu 70 Jahren Integrationsdebatte und –politik.

In einer zumindest schwierigen Zeit der schweizerischen Europapolitik ist es gewiss nützlich, sich zu vergegenwärtigen, was bisher, seit den Anfängen der europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg, geschehen – oder gescheitert – ist und was dazu gesagt und geschrieben worden ist. In diesem Sinn, ursprünglich besonders mit Blick auf ihre Studierenden, haben der Dozent und frühere Diplomat Max Schweizer und sein Mitarbeiter Dominique Ursprung eine Sammlung von Texten herausgegeben.

Das «Lesebuch», wie es die Herausgeber nennen, bietet ohne Anspruch auf wissenschaftliche Systematik mit Zeitungsartikeln, Buchauszügen, Vortragstexten, historischen Dokumenten und persönlichen Erinnerungen gute Einblicke in die Geschichte der europäischen Integration und besonders der schweizerischen Reaktionen darauf. Von der Gegenwart aus wird die Entwicklung zurückverfolgt: Über den Europäischen Wirtschaftsraum und das schweizerische Nein zum Beitritt 1992, die Gründung der Efta 1960 und das Gesuch um Assoziation an die damalige EWG bis zu den Aufbrüchen ab 1945, als noch unterschiedliche Konzeptionen und Wege der Integration im Raum standen. Ein letzter Teil enthält allgemeine Einschätzungen aus mehreren Zeitabschnitten.

Gerade die gegenwärtige Belastungsprobe der Europäischen Union manifestiert deren weit über die Wirtschaft hinausreichende Bedeutung. «Die gemeinsame Stärkung einer humanen Staatsidee» nannte Bundesrat Ernst Brugger 1972 bei der Unterzeichnung des Freihandelsabkommens als Perspektive auch des externen Partnerstaats. Der «politische», potenziell umfassende und auch machtpolitische Charakter der EU ist indes ein Kernproblem der schweizerischen Integrationspolitik, eingestandenermassen oder nicht. Dem Botschafter Carlo Jagmetti fiel es (erst dann) «wie Schuppen von den Augen», als Mitterrand ab 1989 «die Politisierung der EG betrieb». Demgegenüber betonte zum Beispiel der Wirtschaftsvertreter Bernhard Wehrli schon 1965 die Untrennbarkeit von Wirtschaftspolitik und «Politik schlechthin» und kam bezüglich eines multilateralen Vertrags zum Schluss: «Angebliche wirtschaftliche Vorteile sind jedenfalls kein Äquivalent für Souveränitätsverzichte.» Bundesrat Max Petitpierre, Aussenminister von 1945 bis 1961, wusste zwar, wie Daniel Trachsler herausgearbeitet hat, den Wert der europäischen Einigung zu schätzen, blieb aber letztlich einem hemmenden Neutralitätsdenken verhaftet und hatte der wirtschaftlich motivierten Strategie der Handelsabteilung unter Hans Schaffner keine konkrete Alternative entgegenzusetzen.

Der pragmatische Weg, der eine gewisse Integration und zugleich eine wirtschaftspolitische Differenzierung erlaubt (Heinz Hauser), erwies sich als möglich und recht erfolgreich, obwohl Brüssel eine «Rosinenpolitik» stets abgelehnt hat. Das Problem der Verpflichtung zur Übernahme nicht mitbestimmten Rechts, die Bundesrat Friedrich Wahlen schon 1964 gegenüber österreichischen Gesprächspartnern «Satellisierung» nannte, ergibt sich grundsätzlich auch im «Bilateralismus», obschon diese Bezeichnung die Symmetrie üblicher Handels- und Kooperationsabkommen vortäuscht. Wenn die Herausgeber im Titel fragen: «Integration am Ende?», so geht es heute wohl präziser um die selektive Integration auf dem Vertragsweg. Den Beitritt zur EU erwähnen Katja Gentinetta als «letzte Option» und Franz von Däniken als Frage des Gestaltungswillens und der europäischen Berufung der Schweiz.

Das «Lesebuch» macht ein breites Spektrum an Texten bequem zugänglich. Keineswegs angemessen kommen allerdings Westschweizer Stimmen zur Geltung. Vor lauter Europa sollte im Land selber der Horizont nicht die Saane sein.

Max Schweizer, Dominique Ursprung (Hg.): Integration am Ende? Die Schweiz im Diskurs über ihre Europapolitik. Ein Lesebuch. Chronos-Verlag, Zürich 2015. 391 S., Fr. 48.-.