Lesetipp

Die Schweiz im Völkerbund – eine hervorragende Textsammlung

von Daniel Brühlmeier | November 2020
Welche Rolle die Schweiz in der Konstruktion des Multilateralismus im Rahmen des Völkerbunds in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielte, dokumentiert auf eindrückliche Weise ein neuer Band der „Quaderni di Dodis“.

Die Forschungsstelle Dodis (Documents Diplomatiques Suisses) unter der Leitung von Sacha Zala verschafft durch ihre Online-Datenbank Zugang zu einer grossen Auswahl zentraler Quellen der Geschichte der schweizerischen Aussenbeziehungen. Periodisch werden in der Reihe „Quaderni di Dodis“ Forschungsresultate zur Zeitgeschichte und Aussenpolitik veröffentlicht. Der hier anzuzeigende Band ist der mittlere in einer Dreierreihe zu „Die Schweiz und die Konstruktion des Multilateralismus“ und präsentiert fünfzig Schlüsseldokumente über die Rolle der Schweiz an der Entwicklung des Multilateralismus im Rahmen des Völkerbunds zwischen 1918 und 1946. Er ist als Open Access-Publikation in digitaler Form kostenfrei und öffentlich zugänglich (https://www.dodis.ch/q14).

Erkämpfte Mitgliedschaft und Sitz des Völkerbundes
In ihrer Einleitung geben Sacha Zala und Marc Perrenoud eine geraffte, aber informative und präzise Lektürehilfe zur Stellung und zur Hinorientierung der Schweiz zum Völkerbund; dessen Satzung wurde 1919 von der Friedenskonferenz von Versailles beschlossen und der Völkerbund 1920 offiziell gegründet. Die Schweiz war als neutraler Staat nicht zur Friedenskonferenz eingeladen und musste sich im Nachgang um die Mitgliedschaft unter Wahrung ihrer Neutralität und um den Sitz in Genève hinter den Kulissen diplomatisch bemühen. Subtil und zielstrebig zugleich agierten dabei die Bundesräte Ador, Calonder, Motta, aber auch die als Experten zugewandten Professoren Max Huber und William Rappard, gewandt den Beitrag der Schweiz zu den damals schon bestehenden technischen internationalen Organisationen in die Waagschale werfend. Auch die Zustimmung von Volk und Ständen (letztere allerdings nur knapp) für den Beitritt erreichten sie; die Botschaft des Bundesrates wurde damals, ein absolutes Novum, auch auf Englisch übersetzt.

Drei Dokumente: Motta, Frölicher…
Es sei hier erlaubt, auf drei der fünfzig Dokumente einen speziellen Blick zu werfen. In der Mitte der Dokumente (Nr. 24) findet sich die eindrückliche Eröffnungsrede von Giuseppe Motta, damaliger Bundespräsident und frischgebackener Vorsteher des Politischen Departements (dem er noch zwanzig Jahre bis zu seinem Tod im Amt im Januar 1940 vorstehen sollte), zur ersten Vollversammlung des Völkerbundes in Genève vor ziemlich genau hundert Jahren, am 15. November 1920. Es ist eine der eloquentesten Reden von Schweizer Bundesräten: Max Huber, der Gelegenheit erhielt, den Entwurf vorab zu lesen und erfolgreich einige rhetorische Abschwächungen empfahl, meint, dass sie „den Ton der ganzen Verhandlungen von vornherein auf ein Niveau hebt, das sonst an internationalen Konferenzen nicht erreicht wird.“ (Dank der subtilen Verlinkungen im digitalen Text kann man die in Beziehung stehenden Dokumente jeweils direkt abrufen – also der Korrespondenz gewissermassen beiwohnen!) Zudem ist es ein eindrückliches Bekenntnis zum Multilateralismus – und zum besonderen Platz der Schweiz in diesem Konzert.

Die Geschichte hat der enthusiastischen Seite Mottas nicht Recht gegeben (allerdings aber seiner Feststellung: sollte das Gebäude einst wegen seines Ungenügens zusammenstürzen, würde dessen Fundament weiterbestehen und die Ruinen neue Architekten in ihrem Wiederaufbau anleiten!). Schon in den 1920er Jahren war der Völkerbund unfähig, eklatante Verletzungen des Weltfriedens zu kontern. Das verstärkte sich noch in der 1930er Jahren nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Deutschland und nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges. Die Schweiz begab sich in die Igelhaltung der sog. „integralen Neutralität“ und der machtlose Völkerbund wurde, wie eine interne Notiz erhellt, zu einem „Problem“, von dem „man am besten nicht spricht“, und man müsse nicht mehr „durch dick und dünn mit der Genfer Institution“ gehen (Nr. 45).

Das betrüblichste Dokument in diese Richtung (und gleichzeitig der Anpassung an den Nationalsozialismus) ist die Note des schweizerischen Gesandten in Berlin, H. Frölicher, vom 11. Juni 1940 an den Vorsteher des Politischen Departementes, M. Pilet-Golaz, den Nachfolger von Motta (Nr. 43): Sie geht (Sommer 1940!) von einer Endphase des Krieges und von einem Sieg Deutschlands aus, welches „für lange die entscheidende Kontinentalmacht sein wird“. „Die Schweiz muss sich in ihrer Neutralitätspolitik auf die Freundschaft Deutschlands und Italiens stützen.“ Die Schweiz soll deshalb aus dem Völkerbund austreten und dieser Austritt sollte so orchestriert werden, dass „die Massnahme im richtigen Licht bei den Achsenmächten gewürdigt wird.“ (aus der Zentrale erhielt Frölicher immerhin dazu eine ziemlich trockene Absage, s. https://dodis.ch/47115, zweitletzter Absatz)

… und Petitpierre
Das dritte hier zu signalisierende Dokument ist wieder eine Bundesratsrede, die den Bogen schliesst: Max Petitpierre, frisch Bundesrat und Aussenminister, spricht zur letzten Versammlung des Völkerbundes, erfüllt von „melancholischen Gefühlen“, von der Leere, die sich für sein Land auftut, denn im Gegensatz zu den anderen Nationen, die den Völkerbund verlassen und in die Vereinten Nationen eintreten, wird die Schweiz diesen Weg (vorerst) nicht gehen (das Buch endet dann auch sehr schön mit dem Bild der sich definitiv schliessenden Türen des Völkerbundgebäudes und der Verbindung mit diesem Zitat Petitpierres). Er nimmt aber gekonnt die Sämann-Metapher von Motta auf: das Samenkorn muss sterben, um die neue Frucht zu tragen. Und überdies: man bringt in den internationalen Beziehungen Idealismus und Realitätssinn zu vorschnell in Gegensatz: „On oublie que le vrai réalisme tient compte des valeurs idéales.“

Die Textsammlung ist eine hervorragende Dokumentation zum Multilateralismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der speziellen Rolle der Schweiz und deren durchaus nicht unbedeutenden Beitrag. Die digitale Fassung erlaubt den unmittelbaren Dialog der Originaldokumente. Man darf gespannt auf die baldige Fortsetzung warten: Bd. 3, der die Geschichte des langen Wegs der Schweiz in die UNO von 1942–2002 dokumentieren wird.

Sacha Zala und Marc Perrenoud (Hg.): La Suisse et la construction du multilatéralisme. Die Schweiz und die Konstruktion des Multilateralismus Bd. 2. Documents diplomatiques suisses sur l’histoire de la Société des Nations. Diplomatische Dokumente der Schweiz zur Geschichte des Völkerbunds 1918–1946, Bern: Dodis 2019, 178 S.