Kolumne

Die Ukraine braucht Geld jetzt, der Wiederaufbau kommt später

von Daniel Woker* | November 2022
Für die Ukraine ebenso wichtig wie Waffen, um sich gegen Putins Russland zu verteidigen, ist Geld, um die eigene Wirtschaft trotz des Krieges am Laufen zu halten. Dieses kann nur vom westlichen Ausland kommen, damit auch der Schweiz. Die SDR (Sonderziehungsrechte im Rahmen des Internationalen Währungsfonds IWF) sind dafür geeignet, ohne Staatsverschuldung der Schweiz.

Die Wirtschaftsprobleme der Ukraine sind enorm, was für ein Land im Krieg nicht erstaunt. Die traditionellen Hauptexportgüter sind grossenteils zum Erliegen gekommen. Getreide, weil sowohl Anbau als auch, und vor allem Export zu einem guten Teil kriegsbedingt nicht mehr möglich sind. Eisen und Stahl, weil die Produktionsstätten im Osten zerstört sind und Energie für die Produktion nur teuer auf dem Landweg eingeführt werden kann. Rund ein Drittel der arbeitenden Bevölkerung hat die Stelle verloren; jüngere Ukrainer stehen im Feld und sind damit nicht produktiv tätig. Vorhandene Budgetmittel müssen für das Militär und für minimale Sozialaufgaben verwendet werden. Weder Reparaturen noch Investitionen sind möglich.

Wiederaufbau?



Anfang Juli fand bekanntlich in Lugano die erste internationale Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine statt, unlängst die zweite solche Konferenz in Berlin. Bundespräsident Cassis hat bei beiden die Schweiz prominent vertreten, ohne dass klar geworden ist, wie sich unser Land über übliche humanitäre Hilfe hinaus engagieren will. Für den Wiederaufbau werden internationale Strukturen aufgebaut werden müssen, die Rede ist von einem neuen Marshallplan einschliesslich von Kontrollen der Mittelverwendung.

Kurzfristige Bedürfnisse



Kriegsbedingt steht langfristiger Wiederaufbau aber im Moment nicht im Vordergrund. Sondern die kurzfristigen Bedürfnisse eines Landes, welches nicht nur um seine Existenz und territoriale Unversehrtheit kämpft, sondern gleichzeitig grundlegende Werte verteidigt, welche auch für uns zentral sind. Damit ist der Westen, speziell Europa, also auch die Schweiz aufgerufen, der Ukraine jetzt beizustehen.

Wohl ist im Rahmen des Ukrainekrieges eine breite Diskussion über eine zeitgemässe Neutralität der Schweiz entbrannt, direkte, und im Moment auch indirekte Lieferung von Kriegsmaterial will Bern aber nicht zulassen. Wenn nicht mit Waffen, müssen wir der Ukraine eben mit Geld beistehen. Dutzende von Milliarden werden unmittelbar benötigt; der ukrainische Premierminister Denis Shmyhal sprach kürzlich von einem ‘Winterpaket’ von rund 20 Mia. $, allein um die ukrainische Bevölkerung vor den grössten Entbehrungen des ersten Kriegswinters zu schützen. In der Zahlungsbilanz des Landes fehlen zudem rund 5 Mia. $ pro Monat.

Ukrainerinnen und Ukrainer tun bereits, was sie können, um den eigenen Staat zu unterstützen. Seit Kriegsbeginn hat das Finanzministerium Kriegsanleihen von über 15 Mia. $ verkauft. Dies heizt allerdings die Inflation an, die bereits bei rund 25% steht und deren weiterer Anstieg voll auf die Bevölkerung zurückfällt.

Geld aus dem westlichen Ausland



Benötigt wird also Geld aus dem Ausland, sei es bilateral direkt aus einzelnen Staatshaushalten, sei aus eigenen Mitteln von Organisationen wie der EU und, von zentraler Bedeutung, via den Internationalen Währungsfonds IWF. Basierend auf dem Währungshilfegesetz von 2004 hat die Schweiz rsp. die Schweizerische Nationalbank SNB der Ukraine bereits vor Jahren eine bilaterale Kreditlinie von 200 Mio SFr. gewährt, wovon 2017 100 Mio. gezogen worden, allerdings wegen des damals hohen Zinssatzes von 3% bald wieder zurückgezahlt worden sind.

Der IWF und seine SDR



Bereits in den 60er Jahren hat der Internationale Währungsfonds IMF, dem die Schweiz voll angehört und wo wir als wichtiges Währungsland einen Direktorenposten innehalten, eine heute als ‘digitale Reserve’ zu bezeichnende monetäre Einheit geschaffen. Diese ergänzt die Reserven der einzelnen Zentralbanken und soll zum Einsatz kommen, um die Schwächsten zu stützen sowie das monetäre Gesamtsystem zu stabilisieren.

Das sind die Sonderziehungsrechte SDR, welche periodisch und auf Beschluss aller IWF-Mitgliedsländer verteilt, und diesen gemäss der Bedeutung ihrer Wirtschaftskraft zugesprochen werden. Die Schweiz hält heute, am Sitz des IMF, rund 9 Mia. SDR, was rund 11,5 Mia. SFr. entspricht. SDR sind keine frei handelbare Währung, sondern können von einem SDR-Kreditnehmer in Hartwährung von Seiten eines SDR-Kreditgebers umgewandelt werden. Die SDR sind im Gegensatz zu den üblichen Krediten des IWF mit keinerlei Konditionen für den Schuldner verbunden.

Dies alles neben den bekannten Hilfspaketen des IWF - mit Konditionen und Zins verbunden - für von Zahlungsunfähigkeit bedrohte Mitgliedstaaten. Ein solches Paket für die Ukraine ist im Moment in Ausarbeitung, wird aber nicht ausreichen. Damit sind innovative Lösungen gefragt.

SDR Channeling



Solche bestehen bereits innerhalb des IWFs: SDR können übertragen werden, was als SDR channeling bezeichnet wird. Damit kann ein Mitglied die Menge seiner eigenen SDR, also seiner Notreserve beim IWF, dramatisch erhöhen. Technisch ist dieser auf den ersten Blick einfach erscheinende Vorgang alles andere als das und nur für Experten ohne weiteres einsehbar. Es genügt allerdings zu wissen, dass via ein Hilfsvehikel im Rahmen des IWF solche Übertragung möglich ist; Deutschland, Kanada und die Niederlande haben dies bereits zu Gunsten der Ukraine getan. Diese profitiert sehr direkt für kriegsbedingte Notfinanzierung, welche rasch ausbezahlt wird.

Die Schweiz könnte ebenfalls so vorgehen, insbesondere da sie die Ukraine als «Schwerpunktland der internationalen Zusammenarbeit» einstuft. Höhere Beträge in der Reservewährung SDR stehen, wie erwähnt, zur Verfügung, welche aller Voraussicht von uns nie gebraucht werden, da trotz kürzlicher Verluste der SNB auf ihrem Anlagevermögen die schweizerische Staatsverschuldung im internationalen Vergleich sehr tief liegt und der SFr. zu den weltweit härtesten Währungen gehört

Yes we can !



Dieser notwendigen, und für die Schweiz nicht ‘budgetrelevanten’ (also keine weitere Staatsverschuldung) Lösung stehen international die Türen weit offen. Sie würde nicht nur von der Ukraine, sondern zweifelsohne auch von der EU als europafreundliche Geste der Schweiz gewürdigt, was angesichts der gegenwärtigen Zerrüttung des bilateralen Verhältnisses zwischen Bern und Brüssel nicht unwillkommen wäre.

Intern dürften konservative, währungstechnische und auch rechtliche Mahnfinger erhoben werden gegenüber einer Aktion, welche tatsächlich für die Schweiz einzigartig, aber angesichts der fortdauernden russischen Aggression gegenüber der Ukraine dringend und notwendig erscheint. Dem Finanzminister, der SNB und letztlich dem Bundesrat ist zuzurufen: Yes, we can! , wenn nötig auch mit Notrecht und später folgender Parlamentsdebatte. Der Ukrainekrieg geht weiter ohne auf den Gang der eidgenössische Gesetzesmühle Rücksicht zu nehmen.

*Daniel Woker ist ehemaliger Schweizer Botschafter, Co-Gründer von «Share-an-Ambassador/Geopolitik von Experten» und Vizepräsident der «Groupe de Réflexion» der Plattform-Schweiz-Europa.