Kolumne

Ein verlässlicher Partner bleiben

von Daniel Thürer | Januar 2016
Die Initiative «zur Durchsetzung der Ausschaffung krimineller Ausländer» ist nicht nur für die potentiell und tatsächlich Betroffenen von Bedeutung. In fundamentaler Weise berührt sie die Verantwortung des Volks als oberster Staatsmacht und die Glaubwürdigkeit der Schweiz in einer Welt der gegenseitigen Abhängigkeit.

Im Jahr 2010 wurde auf dem Wege einer Verfassungsinitiative ein Artikel in die Bundesverfassung eingefügt, der die automatische Ausschaffung von Ausländern verlangt, die ein bestimmtes Delikt begangen haben. Mit der sogenannten Durchsetzungsinitiative soll der Katalog der einschlägigen Delikte erheblich erweitert werden. Die Einfügung eines solchen Artikels erschiene als Fremdkörper in der Verfassung, also dem fundamentalen Gesetz der Schweiz, und dies in dreifacher Hinsicht:
- Keine bestehende Verfassungsnorm ist so detailliert formuliert wie diese Vorlage;
- Ausschaffungs- und Durchsetzungsartikel haben, wie sonst keine Verfassungsnorm, allein den Ausländer im Fokus, und sie erfassen ihn als potenziellen Straftäter, als Gefahr;
- schliesslich stehen die Normen – als Kristallisationspunkte des Misstrauens (oder des Hasses?) Anderen gegenüber - quer zum liberalen Geist der Bundesverfassung, die sonst «jedermann» ohne Unterschied der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, der religiösen, weltanschaulichen und politischen Überzeugung usw. Rechte gewährt und Pflichten auferlegt.
Gibt es Anlass zu einer neuen Beurteilung der Lage?

Verantwortung der 0bersten Macht
Die schweizerische Staatsrechtsordnung legt, wie sonst keine Verfassung der Welt, die oberste Macht im Staat in die Hände des Volkes. Bürger haben das Recht, unter Ausschluss von Parlament, Bundesrat und Verwaltung sowie der intermediären Kräfte der Zivilgesellschaft in Form von ausformulierten Artikeln über die Grundlagen des Staates selbst zu beschliessen. Eine solche Machtfülle setzt Verantwortung voraus: unter anderem das Wissen,
- dass mit der Volksinitiative die Verfassung als das oberste Gesetz im Staat zur Disposition steht und es nicht darum geht, pragmatisch über das eine oder andere alltägliche oder technische Detail im politischen   Leben zu entscheiden,
- dass im Kampf um die gute Verfassung letztlich immer auch Fragen der politischen Gerechtigkeit zur Debatte stehen
- und dass der liberale Staat auf dem Prinzip der Gewaltenteilung beruht und in diesem Ordnungsgefüge dem Richter als Hüter von Recht und Freiheit eine zentrale Rolle zukommt; dies wird in der Schweiz oft verkannt.
Für mich und viele Andere waren diese Grundprinzipien immer eine Selbstverständlichkeit. Insbesondere bin ich seit je ein Anhänger von Institutionen der direkten Demokratie, die sich in der Geschichte unseres Bundesstaates auch in Krisenzeiten immer wieder bewährt haben. Auch – oder gerade – in der direkten Demokratie weiss der gute Bürger aber, dass seine Macht, in den politischen Prozess zu intervenieren, letztlich gekoppelt ist mit dem Vertrauen, das er den Behörden entgegenbringt.
Hat sich die Lage verändert? Müssen wir eine Neubeurteilung vornehmen?

Wer sind wir denn eigentlich?
Der Ausgang einiger Volksabstimmungen der letzten Jahre hat viele wohlwollende Beobachter und Mitbürger schockiert. Was ist denn los mit der Schweiz, die lange Zeit als Muster einer stabilen, massvollen Demokratie betrachtet wurde, fragte man sich im Inland und im Ausland. Wir dürfen nicht unterschätzen, dass unser Land keine Insel im internationalen Geschehen ist. Politik ist komplex und in hohem Masse interdependent geworden. Wir bedürfen des guten Willens der Andern, um gut funktionieren zu können. Wir dürfen es nicht zulassen, dass wir uns, weil die Folgen von Volksentscheiden nicht genügend durchdacht wurden, in Sanktionen und Gegenmassnahmen verstricken, die unnötig Kräfte verzehren und Aversionen erzeugen. Die Schweiz soll sich als guter Nachbar verhalten. Dazu gehört insbesondere auch die Pflege der Verlässlichkeit, vor allem aber auch die Respektierung des Völkerrechts. Die Schweiz hat – denken wir nur an die Rolle Genfs bei der Begründung der dauernden Neutralität oder von humanitären Institutionen – über eine lange Zeit ein Kapital von Glaubwürdigkeit erworben, das wir nicht leichtfertig vergeuden dürfen. Hier wurden Ideen und Ideale der politischen Kultur entwickelt und vorgelebt, die weltweite Ausstrahlung erlangten. Wollen wir diese Werte und Potenziale aufs Spiel setzen?

Selbstrespekt am 28. Februar
Natürlich besitzt die Schweiz das Recht, Ausländer des Landes zu verweisen, die in grober Weise gegen die Ordnung des Gaststaates verstossen. Auch auf dem Weg der Repression muss sich der Rechtsstaat bewähren. Der Punkt aber ist, dass dies auf faire Weise geschehen muss, d.h. indem der Richter bei Ausschaffungen auch den Kontext der Tat und die persönlichen Umstände des Betroffenen im Einzelfall würdigt. Wir wollen die Ausländer so behandeln, wie wir unsere Mitbürger im Ausland behandelt wissen wollen. Strafautomatismen in menschlich so weitreichenden Fragen sind in modernen Rechtssystemen jedenfalls schon längst überwunden worden. Wir müssen aus Stolz unsere Errungenschaften pflegen: nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch moralischen Gründen, aus Selbstrespekt. Sonst schaden wir uns selbst.

*Daniel Thürer, Mitglied des SGA-Vorstands, ist emeritierter Professor für Völkerrecht, Europarecht, öffentliches Recht und Verfassungsvergleichung an der Universität Zürich und Mitglied des IKRK.