Entwicklungspolitik vor grosser Wende? (I. Teil)

von Martin Fässler, Berater für internationale Zusammenarbeit, ehemaliger Stabchef Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) | April 2015
Vier internationale Konferenzen sollen 2015 die Weichen für die Überwindung von Armut
und Ungerechtigkeit neu ausrichten. Was soll sich ändern und warum? – Teil I


Es beginnt im Juni mit dem G7-Gipfel in Elmau, es folgt im Juli in Addis Abeba die Konferenz zur Finanzierung der globalen Entwicklungsagenda. Im September wird die UN-Generalversammlung in New York die Post-2015-Agenda für nachhaltige Entwicklung konkretisieren. Abschliessend wollen die Staaten im Dezember in Paris im Rahmen der Weltklimakonferenz einen neuen, allgemein gültigen Klimavertrag verabschieden.

Diese Konferenzen sollen einen Paradigma Wechsel in der Entwicklungspolitik besiegeln. Es geht um nachhaltige Entwicklung und neue Wege in der Bewältigung von Armut. Ziel ist es, soziale Ungleichheiten sowohl zwischen Industrie- und Entwicklungsländern als auch innerhalb der Länder zu beseitigen.

Bislang haben wohlhabende Länder die Anstrengungen armer Länder, um begrenzte Armutsprobleme zu bewältigen im Rahmen der klassischen Nord-Süd Zusammenarbeit unterstützt. Künftig soll ein Katalog nachhaltiger Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals – SDGs) für alle Länder gleichermassen Geltung haben. Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländer sind gefordert, ihre innen- und aussenorientierten Politiken enger miteinander zu verschränken, Nachhaltigkeitsorientierte Transformationsprozesse voranzubringen und die Zusammenarbeit zwischen Fachdepartementen, Akteuren der Privatwirtschaft, Zivilgesellschaft und Wissenschaft auf die Erfordernisse im Hinblick auf die Umsetzung des SDG Katalogs zu verstärken.

MDG-Agenda

Im September 2000 hatten die 189 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen acht Millenniumsziele (Millennium Development Goals – MDGs) zur Bewältigung der weltweiten Armut vereinbart. Das prominenteste der acht Ziele ist die Halbierung der Armut bis 2015. Daneben fordern die Ziele eine Primärschulbildung für alle, die Gleichstellung der Geschlechter voranzubringen, die Kindersterblichkeit zu senken, die Gesundheitsversorgung der Mütter zu verbessern, Krankheiten wie AIDS und Malaria zu bekämpfen, die ökologische Nachhaltigkeit zu fördern und eine globale Partnerschaft für Entwicklung aufzubauen.

Bilanz durchzogen

Die MDGs haben die nationalen und internationalen Anstrengungen zur Armutsreduktion strategisch ausgerichtet und bemerkenswerte Fortschritte in Armutsregionen ermöglicht. Zwischen 1990 und 2010 ist der Anteil der Menschen weltweit, die mit weniger als 1,25 Dollar pro Tag auskommen müssen, von 47 auf 22 Prozent gesunken. 2010 lebten rund 700 Millionen Menschen weniger in extremer Armut als 1990. Dazu haben insbesondere Chinas Anstrengungen beigetragen. Mehr als 2 Milliarden Menschen erlangten Zugang zu verbessertem Trinkwasser. Zwischen 2000 und 2010 sank die Malariasterblichkeit weltweit um über 25 Prozent. Zwischen 2000 und 2010 haben über 200 Millionen Slumbewohner Zugang zu verbessertem Trinkwasser, Sanitäreinrichtungen, fester Unterkunft oder ausreichendem Wohnraum erhalten. Von den zehn Ländern, die die MDG Agenda am besten umgesetzt haben, kommen mittlerweile acht aus Afrika.

Verschiedene Ziele des vornehmlich sozialpolitisch angelegten MDG-Katalogs sind jedoch nicht erreicht. Die meisten Kindersterbefällen entfallen auf die ärmsten Regionen. Vielen Kindern bleibt das Recht auf Grundschulbildung verwehrt. Beim Zugang zu sauberem Trinkwasser und Diensten für reproduktive Gesundheit besteht weiterhin ein starkes Stadt-Land-Gefälle. Die geschlechtsbedingte Ungleichheit prägt nach wie vor Entscheidungen im öffentlichen wie im privaten Bereich.

Die sozialen Ungleichheiten haben sich in den letzten Jahrzehnten zwischen und innerhalb der Gesellschaften stark vergrössert. Die ärmsten 40 Prozent der Weltbevölkerung verfügen über 5 Prozent des globalen Einkommens, die reichsten 20 Prozent 75 Prozent des Welteinkommens (1). In den Mitteleinkommensländern bildet sich eine stetig wachsende Mittelschicht heraus, während grosse Teile der Bevölkerung weiterhin in Armut leben.

Verschlechtert hat sich die Lage nicht zuletzt umweltpolitisch. Die globalen Treibhausgasemissionen liegen um rund 40 Prozent über dem Stand von 1990. Der Anstieg ist – mit regionalen Unterschieden - weiterhin ungebremst. Er wird sich – wenn die Politik nicht entschieden einen anderen Rahmen setzt – fortsetzen. Während für die Energienachfrage in den Industrieländern ein geringer Anstieg oder eine konstante Entwicklung angenommen werden, erwarten viele Szenarien bis zum Jahr 2020 eine Verdoppelung des Energiebedarfs in den Schwellen- und Entwicklungsländern.

Die MDGs wurden wegen ihrem engen Fokus auf Gesundheit und Erziehung öfters kritisiert. Es würden eher die Symptome als die Ursachen der Armut inkl. Ermächtigung der Armen angegangen. Insbesondere würden die traditionellen paternalistischen Hilfe Beziehungen zwischen den Ländern des «Nordens» und «Südens» weiterhin fortgesetzt.

Nachhaltige Entwicklungsziele

Zur Entwicklung der neuen Ziele organisierten die Vereinten Nationen von 2012–2013 partizipative Konsultationen. Von 2013–2014 tagte die Offene Arbeitsgruppe aus 70 Mitgliedstaaten, welche im Juli 2014 einen Vorschlag von 17 nachhaltigen Entwicklungszielen (sustainable development goals – SDGs) vorlegte (siehe Kasten).

UN Generalsekretär Ban Ki-moon hat letzten Dezember den Bericht The Road to Dignity by 2030. Ending Poverty, Transforming All Lives and Protecting the Planet (2) veröffentlicht. Er steckt den Rahmen für die derzeitigen Verhandlungen über die neue Ausrichtung der internationalen Entwicklungs- und Nachhaltigkeitspolitik ab.

Sieben der 17 Ziele führen die MDG-Agenda weiter, sechs betreffen ökologische Nachhaltigkeitsprobleme und vier weitere betreffen den Zugang zu erschwinglicher und nachhaltiger Energie, den Abbau von Ungleichheit innerhalb von Ländern und zwischen ihnen, sozial inklusive, sichere und belastbare Städte sowie friedliche und inklusive Gesellschaften im Sinne der Nachhaltigkeit mit rechenschaftspflichtigen Institutionen.

Perspektivenwechsel

Die MDGs haben quantifizierte und zeitgebundene Politikziele für Entwicklungsländer festgelegt Die wohlhabenden Länder haben über ihre Entwicklungshilfe eine unterstützende Nebenrolle. Im Unterschied zu den MDGs sollen die SDGs für alle Länder Geltung haben und die nationalen Politiken der UN Mitgliedsstaaten entsprechend ausrichten. Die meisten der 17 vorgeschlagenen SDGs korrespondieren mit Menschenrechten, zu deren Umsetzung sich die UN-Mitgliedstaaten bereits verpflichtet haben. Anders als die MDGs zielen sie nicht nur auf die Verfügbarkeit, sondern auch auf Zugang, Erschwinglichkeit und Qualität von sozialen Dienstleistungen ab. Der neue Zielkatalog hat das Potenzial, Barrieren zwischen Ländern und Sektoren abzubauen und die Kluft zwischen konventionellen Ansätzen der wirtschaftlichen Entwicklung zur Armutsreduzierung und der ökologischen Nachhaltigkeit zu überbrücken.

(Im 2. Teil geht es um die globalen Veränderungen, die eine Wende der Entwicklungspolitik erfordern)

BOX: Vorgeschlagene Nachhaltigkeitsziele

1. Armut überall und in allen Formen beenden
2. Hunger beenden, Ernährungssicherheit und höherwertige Ernährung erreichen und nachhaltige Landwirtschaft fördern
3. Gesundes Leben ermöglichen und Gesundheit in allen Altersgruppen fördern
4. Gesellschaftlich inklusive, gerechte und qualitativ hochwertige Bildung gewährleisten und lebenslanges Lernen für alle fördern
5. Geschlechtergerechtigkeit und Mitwirkungsmöglichkeiten für Frauen und Mädchen
6. Allgemeine Verfügbarkeit von Wasser und Sanitärversorgung sowie nachhaltiges Wassermanagement
7. Allgemeiner Zugang zu erschwinglicher, zuverlässiger, moderner und nachhaltiger Energie
8. Förderung von anhaltendem, breitenwirksamem und nachhaltigem Wachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle
9. Aufbau stabiler Infrastruktur, sozial inklusiver und nachhaltiger Industrialisierung und Förderung von Innovationen
10. Abbau von Ungleichheit innerhalb von Ländern und zwischen ihnen
11. Städte und Siedlungen sozial inklusiv, sicher und belastbar machen
12. Nachhaltige Muster in Konsum und Produktion gewährleisten
13. Im Kampf gegen den Klimawandel und seine Folgen schnell handeln
14. Ozeane, Meere und maritime Ressourcen schützen und nachhaltig nutze
15. Irdische Ökosysteme schützen, wiederherstellen und nachhaltig nutzen, nachhaltige Waldwirtschaft, Kampf gegen Wüstenbildung und Begrenzung des Verlusts der biologischen Vielfalt
16. Friedliche und inklusive Gesellschaften im Sinne der Nachhaltigkeit fördern, Zugang aller Bevölkerungsgruppen zur Justiz und Schaffung wirksamer, rechenschaftspflichtiger und sozial inklusiver Institutionen auf allen Ebenen
17. Stärkung der globalen Partnerschaft für nachhaltige Entwicklung und ihrer Implementationsmittel

(1): UN Department of Economic and Social Affairs: Rethinking Poverty. Report on the World Social Situation, 2009
(2): UN, The Road to Dignity by 2030: Ending Poverty, Transforming All Lives and Protecting the Planet. http://www.un.org/disabilities/documents/reports/SG_Synthesis_Report_Road_to_Dignity_by_2030.pdf