Lesetipp

Hans Sulzer: Industrieller, Diplomat und mehr

von Christoph Wehrli | Mai 2023
Hans Sulzer (1876-1959) steht für eine enge Verbindung von Unternehmertum und staatsnaher Verbandspolitik. Ausserdem übernahm er in beiden Weltkriegen diplomatische Missionen. Die verschiedenen Rollen harmonierten recht gut – in einer vergangenen Zeit.

Das Winterthurer Maschinenbau-Unternehmen Gebrüder Sulzer, bekannt speziell durch seine Schiffsmotoren, ist ein Teil der schweizerischen Industriegeschichte über sich selber hinaus. Exemplarisch manifestierten sich in ihm lokale Verankerung und Weltläufigkeit, familiäre Machtkonzentration und personelle Verflechtung zwischen Firmen wie auch zwischen Wirtschaft und Verwaltung oder Politik. Eine zentrale Persönlichkeit war während Jahrzehnten Hans Sulzer, Angehöriger der dritten Generation. Auf Initiative seines Enkels Alfred R. Sulzer, der den Nachlass im ETH-Archiv für Zeitgeschichte mit privaten Briefen ergänzt hat, haben Daniel Nerlich und Matthias Wiesmann einen Band herausgegeben, in dem sich eine Reihe von Autorinnen und Autoren den verschiedenen Seiten von Sulzers Leben widmen.

«Minister» im Krisenfall

Hans Sulzer, 1876 als  jüngstes von sechs Geschwistern geboren, leitete von 1914 bis 1934 das dreiköpfige Gremium an der Spitze des Winterthurer Maschinenbaukonzerns und war danach bis zu seinem Tod 1959 Präsident des Verwaltungsrats; er war in zahlreichen anderen Unternehmen Mitglied oder Präsident des Verwaltungsrats; ab 1924 gehörte er den Vorständen der Branchenverbände VSM und ASM an; und schliesslich präsidierte er von 1935 bis 1951 den Vorort des Schweizerischen Handels- und Industrie-Vereins (heute: Economiesuisse). Während des Zweiten Weltkriegs leitete er zwei Jahre teilzeitlich eine Sektion des Kriegs-Industrie- und Arbeitsamts sowie die Kommission zur Überwachung der Ein- und Ausfuhr. Die Kumulation von Aufgaben erreichte wohl einen schwindelerregenden Rekord, entsprach an sich aber dem wirtschaftspolitischen System, dessen Milizelemente und korporatistische Züge in der Kriegswirtschaft noch verstärkt wurden. So war der Direktor des Vororts, Heinrich Homberger, Mitglied der Ständigen Delegation für Wirtschaftsverhandlungen.

Aussergewöhnlich war indessen Hans Sulzers zeitweilige Tätigkeit in der Diplomatie ausserhalb der Verbandsfunktionen. 1917 musste der Schweizer Vertreter in Washington wegen einer verfehlten Vermittlungsaktion kurz vor dem Kriegseintritt der USA versetzt werden. Der gewandte Unternehmer, der Amerika schon bereist hatte, erschien nun als geeignet, um als Gesandter und Minister zusammen mit drei Sonderdelegierten das Vertrauen in die Schweiz wieder herzustellen und angesichts kriegsbedingter Exportbeschränkungen Wege zur Versorgung des Landes zu öffnen. Bei der Werbung um Goodwill, bei der man die Leistungen des neutralen Staats für Militärinternierte hervorhob, wirkte auch die Gesandtengattin Lili Sulzer-Weber mit. In den Wirtschaftsverhandlungen erhielt die Schweiz von den Alliierten die Zusicherung von Lizenzen für bedeutende Getreidelieferungen, und Sulzer erreichte, dass die USA auch die Frachtschiffe dafür zur Verfügung stellten. Er engagierte sich zudem, erfolglos, für einen Einbezug der Schweiz in die Friedensverhandlungen, war allerdings froh, die «temporäre» Mission 1920 abschliessen zu können. Das Unternehmen hatte ihm übrigens weiterhin ein Salär bezahlt, das jenes des Bundes einschliesslich Spesen übertraf.

Bestraftes Engagement

Während des Zweiten Weltkriegs übertrug der Bundesrat Hans Sulzer zweimal die Leitung von Verhandlungen mit Grossbritannien. 1939/40 kam eine Verständigung über den Warenverkehr zustande, doch liess sie sich nach der deutschen Besetzung Frankreichs nicht realisieren. Die darauf mit Deutschland geschlossenen Handelsabkommen führten zu einer Verhärtung bei den Alliierten, und die Bemühungen der zweiten Schweizer Delegation in London blieben nach neun Monaten Ende 1942 erfolglos. Sulzer hatte die Ausrichtung der Aussenwirtschaft auf Deutschland schon vorher als zu einseitig kritisiert und trat von London aus in Bern dafür ein, die Rüstungsausfuhren zu den Achsenmächten zu reduzieren. Bundesrat Walther Stampfli und auch Vororts-Direktor Homberger wandten sich aber gegen klare Konzessionen (sie hätten wiederum zu Problemen mit Deutschland führen können). Das Unternehmen Sulzer wäre kaum betroffen gewesen, da es damals nur zivile Güter wie Motoren für Handelsschiffe nach Deutschland exportierte, wohl aber die Adolph Saurer AG, wo Hans Sulzer Präsident war, mit ihrer Ausfuhr von Kriegsmaterial.

Der auf ein Gleichgewicht in den Handelsbeziehungen bedachte Unternehmer-Diplomat, ein treuer Freund Amerikas, musste es als schlagende Ungerechtigkeit empfinden, dass London und Washington im Herbst 1943 sein Unternehmen mit anderen auf eine schwarze Liste setzten, nachdem er sich – auch gemäss einem Erlass des Bundesrats – geweigert hatte, sich auf das Kontrollregime der Alliierten zu verpflichten. Er war offenkundig gerade wegen seiner exponierten öffentlichen Stellung als Ziel ausgesucht worden. Erst im März 1944 kam es zu einer Lösung. So stand für die Firma dem Prestige des «Ministers» ein konkreter Schaden gegenüber.

Konvergenz in Kriegszeiten

Die betreffenden Buchbeiträge (die zu dem Bild in Arbeiten der Bergier-Kommission passen) ergeben im Ganzen den Eindruck, dass der «business-statesman», wie ihn die New York Herald Tribune 1956 nannte, durch seine diplomatischen Funktionen weder zu spezifischen Vorteilen für das Unternehmen gelangte noch in akute Interessenkonflikte geriet. So entsprach 1942 der Blick auf die angelsächsischen Mächte und Märkte seinem Auftrag von Bern, den Perspektiven seines Unternehmens und seiner persönlichen Neigung. Mit der engen Einbindung des Privatsektors in die Organisation der Kriegswirtschaft konnte Sulzer zufrieden sein. Es handelte sich aber um eine Ausnahmesituation, in der politische Idealvorstellungen beiseite rücken mussten. Nach dem Krieg rief Sulzer zum Kampf für den «Liberalismus im ganzen Umfang seiner Begriffe» auf, und um «dem verfluchten staatlichen Dirigismus den Kampf anzusagen», beteiligte er sich an den Bestrebungen zu einer liberalen Erneuerung. Als einziger Schweizer Unternehmer war er Mitglied der Mont Pélerin Society und über das Schweizerische Institut für Auslandforschung ein wichtiger Geldgeber für deren Geschäftsstelle.

Das vielseitige Engagement Hans Sulzers kommt in den Darstellungen gut zur Geltung, die Person und ihre Ansichten treten, vielleicht bezeichnenderweise, eher indirekt hervor. Ohnehin ist der grosszügig illustrierte Band nicht erschöpfend, allerdings auch nicht erdrückend, wie es bei einem solchen Sujet leicht der Fall sein könnte.

Daniel Nerlich und Matthias Wiesmann (Hg.): «Weltengänger» in krisenhaften Zeiten. Der Winterthurer Industrielle und Diplomat Hans Sulzer (1876-1959). Beiträge von Florian Adank, Pierre Eichenberger, Andrea Franc, Miguel Garcia, Eva Schumacher, Tobias Straumann und Florian Weber. Chronos-Verlag, Zürich 2023, 236 S., Fr. 40.-.