Lesetipp

Im Wirkungsgeflecht von Entwicklung und Migration

von Christoph Wehrli | Dezember 2018
Soll Entwicklungshilfe die Migration vermindern, oder soll vielmehr Migration die Entwicklung fördern? Der neue Caritas-Almanach enthält grundsätzliche und praktische Antworten.

Zwischen Migration und Entwicklung bestehen vielerlei Zusammenhänge, positive und negative, nachweisbare und vermutete, generelle und beeinflussbare. Im entwicklungspolitischen Jahrbuch von Caritas Schweiz behandeln Fachleute den politisch aktuellen Fragenkreis in einer eher migrationsfreundlichen Perspektive und unter humanitärem Aspekt. Nicht direkt zur Sprache kommt – dies vorweg – der parlamentarische Auftrag, die internationale Zusammenarbeit des Bundes und seine Migrationspolitik strategisch zu verknüpfen.

Vorrang für Armutsbekämpfung
Es entspricht wohl der Komplexität des Themas, dass die dargelegten Positionen von Hilfswerken und anderen NGO differenziert und manchmal fast widersprüchlich sind. Entschieden abgelehnt wird eine «Instrumentalisierung» der Entwicklungszusammenarbeit zur Abwehr insbesondere von armutsbedingter Migration nach Europa. Mit einer solchen einseitigen Fokussierung, so lautet die Begründung, würde die Nord-Süd-Kooperation weder ihre umfassendere Aufgabe noch die – zu hohe – spezifische Erwartung erfüllen. Denn zum einen seien für den globalen Ausgleich Faktoren wie die Handelspolitik, das Steuerregime oder die Regeln für Rohstoffkonzerne – kurz: eine kohärente Entwicklungspolitik – gewichtiger als Hilfsprogramme, und zum anderen hätten wirtschaftliche Verbesserungen in einer ersten Phase im Allgemeinen zur Folge, dass mehr Menschen über Geld und Kenntnisse verfügten, um auswandern zu können.

Gleichzeitig wird aber natürlich bejaht, dass Migration eine Folge von Armut sein kann. Zwei Autoren informieren über Projekte, die eine Existenz am angestammten Ort erleichtern sollen. So wird in Bosnien-Herzegowina die Bildungsintegration der «besonders migrationsgefährdeten» Roma gefördert, und in Bihar hat sich dank einem Landwirtschaftsprojekt die Lage von Dalits so weit verbessert, dass deutlich weniger dieser «Unberührbaren» in anderen indischen Gliedstaaten, sogar im fernen Delhi, saisonale Arbeit suchen müssen. Binnenwanderungen und regionale Bewegungen sind, wie mehrmals betont wird, viel umfangreicher als die Süd-Nord-Migration, können allerdings eine Vorstufe von dieser sein.

Gemeinsame Gestaltung
Grundsätzlich überwiegt in dem Sammelband ein positiver Blick auf (nicht erzwungene) Migration im Sinn von Bewegungsfreiheit, Austausch und Impulsen für Neues. Über die Folgen der Auswanderung für Entwicklungsländer besteht allerdings in der Forschung kein Konsens. Ein Spezialist resümiert, wie sich die dominierenden Einschätzungen abwechseln, bald mehr die Gewinne, speziell die Geldüberweisungen in die Heimat, bald mehr die Verluste (Braindrain im weiten Sinn) und die sozialen Probleme hervorgehoben werden. In jüngster Zeit wird kritisiert, dass ein neoliberaler Optimismus die Staaten aus ihrer Verantwortung entlasse.

Schon im Titel der Publikation wird denn auch die Notwendigkeit betont, Migration politisch «menschengerecht» zu gestalten, und zwar in Zusammenarbeit der Herkunfts-, der Transit- und der Aufnahmestaaten. Den Bezugsrahmen bilden die internationale «Agenda 2030» und der im Juli verabschiedete «Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration», der inzwischen innerhalb der Schweiz wie in anderen Ländern auf Opposition gestossen ist. Aus der Adjektiv-Formel «sicher, geordnet und regulär» ergibt sich hauptsächlich die Forderung nach legalen Möglichkeiten zu grenzüberschreitender Mobilität. Einzelne Autoren erwähnen aber auch etwa das Problem der hohen Ausbildungskosten, welche ärmere Länder zum Nutzen von reicheren zu tragen haben, und postulieren eine Abgeltung oder Partnerschaften zur Schulung von Fachkräften sowohl für den einheimischen Bedarf als auch für die Auswanderung. Kein Thema sind die ebenso zu bedenkenden Alters-«Lasten», die nach einer Rückkehr wieder den Herkunftsländern zufallen. Umso wichtiger ist der Hinweis eines Autors aus Benin, dass die wenigsten afrikanischen Länder über eine migrationspolitische Strategie verfügen. Vorderhand engagieren sich Hilfswerke konkret für den Schutz und die Rechte verletzlicher Migranten, seien es Opfer von Ausbeutung und Menschenhandel in Südostasien (Caritas), Wanderarbeiter, die aus Nepal in die Golfstaaten aufbrechen (Deza/Helvetas), oder Hausmädchen in Städten von Burkina Faso (Terre des hommes).

Der Almanach ist ein hilfreicher Beitrag in einer gewiss nicht immer sachlichen Diskussion. Bedauern mag man, dass sich die Artikel nicht durchwegs auf das Kernthema konzentrieren und dass deutlich kontrastierende Stimmen fehlen. Denn trotz den vielen Studien, auf die sich Autorinnen und Autoren berufen, gibt es zu zwei so vielfältigen Phänomenen wie Entwicklung und Migration nicht nur eine einzige Wahrheit.

Almanach Entwicklungspolitik 2019. Migration und Entwicklung: Globale Wanderungen menschengerecht gestalten. Caritas-Verlag, Luzern 2018. 340 S., Fr. 39.-.