Editorial

Kopernikanische Wende fällig

von Rudolf Wyder | März 2021
Die Rahmenabkommen-Debatte ist komplett aus dem Ruder gelaufen. Wer daran schuld ist, interessiert weniger als woran es liegt. Es ist Zeit, das Ruder herumzuwerfen!

Weshalb steigt die Sonne mal höher, mal weniger hoch über den Horizont? Warum bewegen sich Planeten mal schneller, mal langsamer über den Nachthimmel und gelegentlich gar rückwärts? Wie kommt es, dass Gestirne auf so merkwürdige Weise um unsere gute Erde rotieren? Während Jahrhunderten haben sich Astronomen (und Theologen) darüber die Köpfe zerbrochen.

Bis jemand sich fragte, ob sich Sonne und Planeten vielleicht nur scheinbar um die Erde drehen. Bis jemand auszusprechen wagte, dass unsere Erde ein Planet unter anderen ist und das Zentrum der Ekliptik woanders liegt. Die Aufregung ob dieser verblüffenden Erkenntnis war gewaltig. Aber noch grösser war der Nutzen der Einsicht. Auf einmal waren die Himmelsbewegungen verständlich und vorhersehbar. Es lebt sich trefflich mit der Vorstellung, dass die Erde nicht das Zentrum des Universums ist. Der Durchbruch war epochal. Kopernikus hat die Wissenschaften entfesselt.

Weshalb macht uns Brüssel nicht die paar Konzessionen, die das InstA bekömmlicher machen könnten? Warum beharrt die EU auf der Rechtsauslegung durch den EuGH, in dem die Schweiz nicht vertreten ist? Was haben wir als Nichtmitglied mit der Unionsbürgerrichtlinie am Hut? Warum schikaniert man uns damit, dass neue Marktzugangsabkommen verweigert und alte nicht nachgeführt werden? Was soll das Powerplay gegen einen guten Handelspartner?

Hadern und Schimpfen bringen nichts. Was nottut, ist eine kritische Überprüfung unserer Weltsicht. Der helvetische Bildausschnitt ist offensichtlich nicht das ganze Bild. Wir brauchen, um uns zurechtzufinden, einen weiteren Blickwinkel, eine unbefangene Betrachtung des Gesamtbilds.

Die EU rotiert nicht um die Schweiz
Ein frischer, quasi kopernikanischer Blick zeigt: Die EU rotiert nicht um die Schweiz, sondern umgekehrt. Die EU ist nicht bloss eine Brüsseler Zentrale, sondern der gebündelte Wille von 27 Staaten, darunter unseren engsten Partnern. Die Union kann es ohne uns, wir aber nicht ohne sie. Die EU steht für einen Kontinent, sie agiert auf Augenhöhe mit den USA, China und Russland. Der für uns vitale europäische Binnenmarkt ist ein Projekt der EU. Auch wenn sie bereit ist, Nichtmitgliedstaaten hürdenfreien Zugang zu gewähren: die Spielregeln sind naturgemäss die ihren. Was aus der EU als grösstem Wirtschaftsraum der Welt und als Gemeinschaft liberaler Demokratien wird, entscheidet auch über unser Wohl und Wehe.

Solange wir die Ekliptik auf den Kopf stellen, werden wir gegen eine Wand rennen. Wir führen Scheingefechte, wenn wir uns nicht darum bemühen, Logik und Interessen unserer Verhandlungspartner zu begreifen. Unsere Innenpolitik ist relevant – für uns. Aber auch unsere Partner haben ihre Innenpolitiken und eine globalstrategische Positionierung dazu.  Und wie stehen wir da, von aussen betrachtet?

«Die EU ist kein Monster», glaubte uns der deutsche Botschafter soeben in Erinnerung rufen zu müssen. Was sagt uns das? Es ist ein Weckruf. Sicher hilft die Dämonisierung des Gegenübers nicht, unsere Anliegen durchzubringen.

Blick auf das Ganze statt Helvetozentrismus
In der Tat ist die schweizerische Europadebatte seit 1992 auf immer groteskere Weise aus dem Ruder gelaufen: mehr Vorurteile als Kenntnisse, viel künstliche Aufregung, wenig Sachlichkeit, Wehleidigkeit anstelle von Voluntarismus. Wir scheinen aus den Augen verloren zu haben, mit wem wir es zu tun haben und worum es geht. Wir sprechen mit uns grundsätzlich freundlich gesinnten, kulturell verwandten demokratischen Rechtsstaaten und unseren wichtigsten Handels- und Kooperationspartnern. Es geht schlicht darum, den Platz der Schweiz im stets vernetzteren, integrierteren Europa zu definieren.

Der europäische Normalfall ist, dass sich souveräne Staaten einer gewissen Grösse in der EU engagieren, Mitverantwortung tragen und ihre Souveränität ausüben, indem sie mitentscheiden. Man kann es anders haben, selbst wenn man genau mittendrin ist. Aber dann ist man ein Drittstaat und kann nicht alle Vorteile der Mitgliedschaft beanspruchen. Eine mittlere Lösung, den EWR, haben wir verworfen. Der als Ersatzlösung angelegte «bilaterale Weg» hat uns gut gedient. Er ist aber einsam und absturzgefährdet. Ziel des InstA ist es, den Weg begehbar zu halten. Man kann es ablehnen, aber damit verurteilt man das nicht mehr gewartete Konstrukt des «Bilateralismus» zum Einsturz.

Wollen wir tatsächlich auf das A-jour-Halten der MRA verzichten? Können wir es uns leisten, die Forschungszusammenarbeit, die Beteiligung an Erasmus aufs Spiel zu setzen? Wollen wir uns die Möglichkeit verbauen, die Zusammenarbeit im Strombereich, im Gesundheitswesen, in weiteren Themen zu regeln? Kann es eine ernsthafte Option sein, uns wie die Briten einen neuen Bürokratieschub, Lastwagenschlangen an der Grenze und Versorgungsengpässe einzubrocken? Wozu sollten wir uns das antun?

Den Kosmos zu sehen, wie er wirklich ist, hat etwas eminent Befreiendes. Die realistische Lageanalyse erlaubt es einzuschätzen, was sinnvoll und machbar ist, wo Handlungsspielräume liegen und wie vorzugehen ist. Wir verlieren nichts, wenn wir uns klarmachen, dass die Interdependenz zwischen der Schweiz und der EU asymmetrisch ist. Ob die Einsicht allen gefällt, ist egal. Entscheidend ist, dass nur eine realistische Weltsicht es ermöglicht, eine vorurteilslose Auslegeordnung der effektiven Optionen zu machen und dann den Weg rational, entspannt und selbstbewusst zu definieren.

Machen wir uns nichts vor: unsere aktuelle Selbstbezogenheit ist in Europa ein Unikum. Wir haben uns mit viel Fleiss in einen Hyper-Sonderfall verpuppt. Nur wir selber können uns aus dem Kokon befreien. Die kopernikanische Wende ist überfällig.