Editorial

Kostspieliges «Warten auf Godot»

von SGA-Vizepräsident Rudolf Wyder | Oktober 2019
Zuwarten hilft nicht weiter in der schweizerischen Europapolitik. Wollen wir nicht in eine fatale Negativspirale geraten, müssen wir voranmachen mit dem Institutionellen Abkommen (InstA) und offene Fragen beantworten statt Bedenken zu kultivieren.

Wann kommt Godot? SIND wir wirklich mit ihm verabredet? Und wer überhaupt ist Godot? In Beckets absurdem Theater bleiben die Fragen unbeantwortet. Und natürlich wird Godot, wer immer es ist, nach all dem Warten und Werweissen nicht erscheinen. Blickt man unbefangen auf den helvetische Umgang mit dem zwischen 2014 und 2018 ausgehandelten Institutionellen Rahmenabkommen mit der EU, kurz InstA, beschleicht einen der Verdacht, auch hier warte man auf etwas, ohne zu wissen worauf – mit dem absehbaren Ausgang, dass am Ende nichts kommt. Aber heisst das auch, dass nichts passiert?

Wer sich in der diplomatischen Community der Bundesstadt umhört, kommt unweigerlich zum Befund, dass die Schweiz gerade dabei ist, viel Verständnis und Sympathie bei Freunden und Partnern zu verscherzen. Nicht weil sie das Falsche tut, sondern weil sie nichts tut. Dass im Wahlkampf alle (ausser natürlich die prinzipiellen Neinsager) einen weiten Bogen um die InstA-Frage machten, erscheint Aussenstehenden schlicht als Absonderlichkeit. Gerade wer die Gründlichkeit bewundert, mit der internationale Engagements hierzulande erwogen und hinterfragt werden, ist umso perplexer ob der aktuellen Wortkargheit und Unentschlossenheit – oder ist es gar Ambitionslosigkeit? Und wohlwollende Beobachter tun sich immer schwerer mit Äusserungen, selbst von höchster Stelle, die auf Verständnislosigkeit für die Interessen Dritter, wenn nicht Arroganz gegenüber Partnern schliessen lassen. Können wir uns das leisten?

Eigenbrötlerei auf Kosten langfristiger Interessen
Auch wenn bei diplomatischen Äusserungen etwas Verhandlungstaktik subtrahiert werden darf – es bleibt der Befund, dass sich die Schweiz gerade mit viel Fleiss den Ruf einer hartgesottenen Eigenbrötlerin einhandelt, die sich nicht nur um die Aussenwahrnehmung und die Befindlichkeit ihrer Partner foutiert, sondern auch versäumt, sich über ihre eigenen längerfristigen Interessen Rechenschaft zu geben. Diese werden ihr gelegentlich von Dritten in Erinnerung gerufen. So sind Anfang September neun Nachbarregionen auf Initiative Baden-Württembergs in Brüssel vorstellig geworden, um vor einer Negativspirale in den Beziehungen Schweiz-EU und vor einem Scheitern des Rahmenabkommens zu warnen. Die Fürsprache in Brüssel ist eine ausgestreckte Hand, die es zu ergreifen gilt. Es ist aber auch ein Appell an die Schweiz, die Chance einer nachhaltigen Regelung nicht zu verpassen.

Das Schadenpotential ist beträchtlich. Lassen wir das InstA versanden, wird der hochgepriesene «bilaterale Weg» verganden. Bestehende Vereinbarungen werden nicht mehr nachgeführt, Inkongruenzen und Konflikte häufen sich, die Kosten steigen, Irritationen auf beiden Seiten schaukeln sich auf. Erstes Opfer wird schon bald die hochproduktive Schweizer Medizinaltechnikbranche: Weil das Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen nicht aktualisiert wird, ist der Zugang zum Binnenmarkt ab kommendem Frühjahr in Frage gestellt. Ungewiss sind die Perspektiven in mehreren Feldern der Kooperation. Die umfassende Beteiligung der Schweiz am europäischen Forschungsprogramm Horizon Europe steht auf dem Spiel. Am Erasmus-Austauschprogramm ist unser Land nicht mehr voll beteiligt. Die Verhandlungen etwa über den Strommarkt sind blockiert. Dabei drohen der Schweiz bei einem Verlust der Rolle als Stromdrehscheibe Europas nicht nur ökonomische Einbussen, sondern auch weniger Netzstabilität und sinkende Versorgungssicherheit. Schaden nimmt schliesslich – und das ist nicht das Mindeste! – die Glaubwürdigkeit der Schweiz als Vertragspartnerin. Man kann nicht jahrelang verhandeln und dann das Ergebnis, das naturgemäss ein Kompromiss zwischen unterschiedlichen Interessen ist, dem Zerreden überlassen, ohne unglaubwürdig zu werden. Aussenpolitik muss nicht zuletzt aussenpolitischen Massstäben genügen.

Das InstA ist nicht einfach ein Abkommen mehr. Es geht darum, das über Jahre aufgebaute Brückenkonstrukt zwischen der Schweiz und der EU auf ein tragfähigeres, dauerhafteres Fundament zu stellen. Nicht von ungefähr hat die Idee eines Rahmenabkommens ihren Ursprung in der Schweiz. Rechtsfortschreibung, Überwachung, Auslegung und Streitbeilegung klar zu regeln, liegt in erster Linie im Interesse der Vertragspartei, die machtmässig am kürzeren Hebel sitzt. Zu gewinnen sind Transparenz, Stabilität, Kontinuität, Rechtssicherheit. Hoffentlich wird sich auf der politischen Linken bald die Auffassung durchsetzen, dass für den Werkplatz die vertragliche Anerkennung des Prinzips Lohnschutz wahrscheinlich mehr wert ist als einzelne quantitative Fixierungen und vor allem der diskriminierungsfreie Zugang zum Binnenmarkt nicht aufs Spiel gesetzt werden darf. Die Rechte täte gut daran, Verfahrenssicherheit nicht verabsolutierter Souveränität zu opfern. Und die in den Parlamentswahlen gestärkte Mitte möge erkennen, dass es im Landesinteresse liegt, die dynamischen Beziehungen Schweiz-EU in einen institutionellen Rahmen zu fassen.

Es braucht positive Signale
Soll eine weitere Eskalation von Nadelstichen und Gegenmassnahmen vermieden werden, sind jetzt beidseits positive Signale nötig. Ein solches wäre eine eindeutige Willensbekundung des Bundesrates, ohne Querschüsse, das Rahmenabkommen rasch ins Ziel bringen zu wollen. Fällig ist sodann, dass sich das Parlament ohne Wenn und Aber für eine weitere Kohäsionsmilliarde ausspricht. Dieser Preis für den Binnenmarktzutritt ist nicht zu hoch. Von der europäischen Seite darf erwartet werden, dass das unselige Spiel mit der Börsenäquivalenz abgebrochen wird. Sodann müsste grünes Licht für die Beteiligung der Schweiz an der europäischen Forschungszusammenarbeit und für die Nachführung gewisser technischer Normen erteilt werden. Ein Austausch positiver Botschaften wird zur Akzeptanz des InstA in der Schweiz und damit zu einer für alle erspriessliche Weiterentwicklung einer erfolgreichen Partnerschaft beitragen.

Godot kommt nicht. Warten bringt nichts – ausser Risiken und Kosten. Das Thema der ersten Berner AULA-Veranstaltung dieser Saison am 20. November lautet dementsprechend «Schweiz-EU: Wie weiter?». Diskutieren Sie mit darüber, wie das Verhältnis zum wirtschaftlich wie politisch wichtigsten Partner der Schweiz erfolgreich weiterentwickelt werden kann!