Editorial

Mutlosigkeit ist aller Misserfolge Anfang

von SGA-Vizepräsident Rudolf Wyder | Mai 2017
Der Bundesrat lässt das Vorhaben fallen, einen Gegenvorschlag zur Rasa-Initiative vorzulegen. Das ist im Lichte der Vernehmlassungsresultate nachvollziehbar. Dennoch ist es falsch.

Es ist eine Volteface, was der Bundesrat vollzieht. Nachdem er für seine Stellungnahme zur Rasa-Initiative eine Fristverlängerung erwirkt hat, um Zeit für einen Alternativvorschlag zu haben, will er nun auf einen solchen verzichten. Er empfiehlt dem Parlament alternativlos Ablehnung des Volksbegehrens, das den Zuwanderungs-Artikel 121a aus der Bundesverfassung tilgen will. Überraschend kommt es nicht. Die Vernehmlassung zu möglichen Gegenentwürfen zur Streichungsinitiative ergab mehr Dissonanz als Konsonanz.

Überraschen kann freilich auch das ernüchternde Vernehmlassungsresultat nicht. Beide vom Bundesrat angebotenen Optionen sind untauglich. Weder die eine noch die andere löst das Problem, dass der Bundesverfassung ein Artikel einverleibt wurde, der mit anderen Entscheidungen des Souveräns kollidiert und nicht ohne massive Selbstbeschädigung wörtlich umgesetzt werden kann. Die eine Option lässt Artikel 121a BV unverändert stehen und hebt lediglich die Übergangsbestimmungen mit ihren kurzen Umsetzungsfristen auf. Das ist mut- und perspektivlos, ja letztlich politisch unredlich, denn es täuscht einen real nicht existierenden Verhandlungsspielraum vor. Die andere Option hält an der Zuwanderungssteuerung mittels Höchstzahlen und Kontingenten fest, doch sollen völkerrechtliche Verträge von grosser Tragweite für die Stellung der Schweiz in Europa Vorrang haben. Die SGA hält auch dies nicht für zielführend, sieht darin aber einen Anknüpfungspunkt für einen sinnvollen, mehrheitsfähigen Gegenvorschlag.

Dazu muss das dem «Masseneinwanderungs»-Artikel zugrundeliegende Anliegen aufgenommen und mit den Hauptelementen einer zukunftstauglichen, europakompatiblen Migrationspolitik unter einen Hut gebracht werden. Von dieser Überlegung ausgehend hat die SGA einen Artikel entworfen, der die Steuerung der Zuwanderung mit völkerrechtlichen Verpflichtungen in Einklang bringt und mit der Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotentials sowie Missbrauchsbekämpfung verbindet (siehe Medienmitteilung der SGA-ASPE vom 27. Februar 2017).

Ähnliche Überlegungen haben auch andere Vernehmlasser angestellt. Vermittelnde Formulierungsvorschläge haben etwa die Grünliberalen, die Grünen, der Städteverband, foraus und die NEBS vorgelegt. Weniger kreativ gaben sich bisher die grossen politischen Parteien. Dies zum Anlass zur Kapitulation zu nehmen, wäre jedoch falsch. Wer sich nicht auf einen Formulierungsvorschlag festgelegt hat, ist möglicherweise einem Kompromissvorschlag zugänglich.

Die bundesrätliche Kehrtwende lässt das Entscheidende ausser Acht: Die Mehrheit der Vernehmlasser hat sich grundsätzlich für einen Gegenentwurf ausgesprochen. Darunter befinden sich etliche Kantone. Drei der vier Bundesratsparteien zeigen sich zumindest offen für einen Gegenvorschlag. Selbst die Rasa-Initianten verlangen bemerkenswerterweise einen Gegenentwurf und stellen den Rückzug ihres Volksbegehrens in Aussicht, sofern ein Gegenvorschlag angenommen wird, «der den Widerspruch zwischen der geltenden Verfassung und dem FZA beseitigt, Rechtssicherheit widerherstellt und die Bilateralen Verträge erhält».

Den Initianten ist zuzustimmen: Es ist nicht gut, dass eine Diskrepanz zwischen Verfassungsauftrag und Umsetzung bestehen bleibt. Es widerspricht konstitutioneller Hygiene, eine nicht umsetzbare Verfassungsbestimmung stehen zu lassen. Der Widerspruch zwischen dem an der Urne mehrfach bekräftigten Freizügigkeitsregime und dem am 9. Februar 2014 in die Verfassung geschriebene Gegenteil – Höchstzahlen und Kontingente – gehört aufgelöst. Nur der Souverän, der den Widerspruch geschaffen hat, kann ihn wieder auflösen.

Gibt die Exekutive dem Wunsch der Mehrheit der Vernehmlasser nicht nach, ist es an der Legislative, einen Gegenvorschlag auszuarbeiten. Wenn es im vergangenen Dezember gelungen ist, eine Koalition der Pragmatiker zu schmieden, um eine mit den internationalen Verpflichtungen und den gesamtwirtschaftlichen Interessen vereinbare Umsetzung der verqueren Verfassungsbestimmung hinzukriegen, muss es auch jetzt möglich sein, die Kräfte zu bündeln, damit der die Innen- wie die Aussenpolitik belastende Widerspruch ausgeräumt wird.

Eine europapolitische Klärung ist geboten. Wird die Sache beherzt angegangen, stehen die Chancen gut. Allem Gezeter zum Trotz ist das Referendum gegen die vom Parlament beschlossene Umsetzung von Artikel 121a BV kläglich gescheitert. Umfragen zeigen einen robusten Rückhalt für die bilaterale Verflechtung mit der EU. Nicht gegen, sondern für eine Bereinigung spricht, dass weitere abenteuerliche Initiativen aus der stets selben politischen Ecke zur Behandlung anstehen oder angekündigt sind.

Die Volteface der Landesregierung wirkt mutlos. Indes Resignation ist ein schlechter Ratgeber. Das letzte Vierteljahrhundert sollte uns gelehrt haben, dass die Attacken der Abschotter immer dreister werden ob der fehlenden Weitsicht und Entschlossenheit der Befürworter einer realistischen, zukunftsorientierten Aussenpolitik. Mutlosigkeit ist aller Misserfolge Anfang. Warum nicht der nächsten Abkoppelungs-Initiative mit der Bekräftigung einer pragmatischen Europapolitik zuvorkommen?