Kolumne

Nach Brüssel, aber zur EU

von Daniel Woker* | Juli 2022
Die Zeitenwende des Ukrainekriegs bringt auch die schweizerische Aussenpolitik in Bewegung. Allein bleiben ist keine Option mehr. Die Hinwendung muss primär Richtung EU erfolgen, welche allein eine umfassende Alternative zum Sonderweg Schweiz bietet.

FDP-Präsident Thierry Burkart, und nach ihm andere fordern eine engere Anlehnung an die NATO, da die Schweiz, wie der Ukrainekrieg zeigt, sich allein nicht gegen nackte Aggression verteidigen kann. Verteidigungsministerin Viola Amherd ist mit dem Generalsekretär der NATO zusammengetroffen und meinte nachher, die NATO würde eine Annäherung begrüssen.  Sie alle schliessen allerdings alles aus, was mit der schweizerischen Neutralität unvereinbar sei. Aber engere Zusammenarbeit geschieht via gemeinsame Übungen, Rüstungsbeschaffung und Vernetzung von Kommandostrukturen. Wenn die Forderung nach wirklicher Anlehnung ernst gemeint ist, wird sie über die bisherige, lose Zusammenarbeit im Rahmen der sog. Partnership for Peace hinausgehen müssen in Richtung assoziierte NATO-Mitgliedschaft. Das ist ein durchaus ernsthaft zu prüfender, immerhin aber entscheidender Schritt weg vom Dogma des neutralen und bewaffneten Igels, das offiziell weiterhin gilt.

Sicherheitspolitik in der EU

Weniger radikal ist eine resolute Annäherung an die EU, welche zwar sicherheitspolitisch nicht mit der NATO verglichen werden kann, aber auch in diesem Bereich vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges entscheidende Schritte tun will. Im Rahmen der PESCO (Permanent Structured Cooperation) steht die Schaffung einer diesmal real existierenden «Raschen Eingreiftruppe» - aus verschiedenen europäischen Streitkräften zusammengesetzt, aber unter einem einheitlichen EU-Kommando - dabei im Vordergrund. Dänemark, das sich bis zum Ukrainekrieg mit der NATO als sicherheitspolitischem Schirm begnügte, wird nun der PESCO beitreten in der Folge eines mit überwältigendem Volksmehr angenommenen Referendums.

Die anderen bisherigen Neutralen in Europa sind alle drei Mitglied der EU und beteiligen sich an der PESCO. Finnland und Schweden treten auch der NATO bei, befinden sich geopolitisch mit ihrer weit offenen Flanke zu Putins aggressivem Russland aber in einer offensichtlich anderen Situation als unser Land Falls die Schweiz sich wirklich sicherheitspolitisch internationaler ausrichten will, wäre ein aktives Mittun in der PESCO ein erster Schritt, der in Brüssel wohl auch von einem einstweiligen EU-Nichtmitgliedsland begrüsst würde. Zumal von einem Land wie die Schweiz, das über durchaus ernst zu nehmende Streitkräfte verfügt und wo laut einer ersten Umfrage eine Mehrheit militärische Zusammenarbeit mit der EU wünscht.

EU-Sicherheitspolitik als Alternative

Die Frage nach Relevanz, ja Berechtigung einer eigenständigen sicherheitspolitischen EU ist durchaus angebracht. Dies insbesondere in einem Moment, wo ohne Unterstützung aus der NATO die Ukraine wohl durch russische Aggression bereits überrollt, und zumindest das Baltikum durch den Putinschen Wahn eines imperialen Russlands akut gefährdet wäre. Allerdings bleibt die NATO mit der schweren Hypothek einer allfälligen Wiederkehr von «Trumpismus» ins Weisse Haus belastet. Auch wenn dieser schlimmste Fall nicht eintreten sollte, werden sich die USA nach Beendigung des Ukrainekriegs erneut dem Grossraum Asien-Pazifik zuwenden.

Die Aktualität zeigt, dass die EU-Mitgliedschaft auch sicherheitspolitische Relevanz hat. So etwa, wenn die Ukraine parallel zu ihrem heldenhaften Verteidigungskrieg, und das ebenfalls akut gefährdete Moldawien um Aufnahme in die EU ersuchen. Ohne Lukaschenko dürfte dies auch die überwiegende Mehrheit in Weissrussland so wollen, wie die dort mit Hilfe von Moskau brutal niedergeschlagene Bürgerrevolte gezeigt hat. Im Gegensatz zur NATO-Mitgliedschaft dieser drei EU- Kandidaten - welche auch bei einem allfälligen Sturz von Putin kaum möglich erscheint  -  ist die Aufnahme in die EU keineswegs ausgeschlossen.

Die EU als breite Alternative

Natürlich nicht nur sicherheitspolitisch, sondern und hauptsächlich als breite Organisation für demokratische und soziale Marktwirtschaft bietet ‘Brüssel’ für diese drei Länder eine attraktive Alternative zu politischer Autokratie und Planwirtschaft oder oligarchen-gesteuertem Neoliberalismus.  In einer eindrücklichen Präsentation in der Churchill-Aula der Universität Zürich hat der Luxemburger EU-Kommissar Nicolas Schmit neulich dargelegt, dass und wie die EU - neben dem, und ergänzend zum gemeinsamen Binnenmarkt -  auch schon weit fortgeschritten ist bei der Schaffung eines sozialen Raumes in Europa. Er legte detailliert dar, wie Brüssel nicht einen Sozialstaat Europa errichtet (Eckpunkte der Sozialpolitik wie beispielsweise die Ausgestaltung der Rentenpolitik bleibt bei den einzelnen Mitgliedstaaten), aber einen «Sozialraum Europa» als wesensnotwendige Ergänzung zu grenzüberschreitendem Waren-, Dienstleistungs- und Personenverkehr.

Die Schweiz im sozialen Europa

Dies gehört ins Stammbuch jener, welche sich nicht vom Feindbild der «neoliberalen EU» lösen wollen. Falls sie sich entscheiden sollten, das traditionelle Mitte-Links-Boot schweizerischer EU-Politik wieder zu besteigen, wird dieses künftig von der nationalistischen Rechten nicht mehr zum Kentern gebracht werden können. Wie dies leider beim einseitigen Abbruch der Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der EU durch den Bundesrat geschehen ist.




*Daniel Woker ist ehemaliger Schweizer Botschafter, Co-Gründer von «Share-an-Ambassador/Geopolitik von Experten» und Vizepräsident der «Groupe de Réflexion» der Plattform-Schweiz-Europa.