"Navigieren statt positionieren": Möglichkeiten der Schweiz in der fragmentierten Welt

von Christoph Wehrli | Mai 2023
Peter Maurer, von 2012 bis 2022 Präsident des IKRK, hat in einer Aussenpolitischen Aula einerseits das Bild einer vielfach zerklüfteten, unsicheren Welt gezeichnet, anderseits Möglichkeiten aufgezeigt, wie die Schweiz mit einer flexibleren Aussenpolitik zu Kompromissen bei globalen Problemen beitragen könnte.

«Die Welt in Aufruhr» stand als Titel über der Veranstaltung mit Peter Maurer, welche die Schweizerische Gesellschaft für Aussenpolitik (SGA) zusammen mit der Schweizerischen Helsinki Vereinigung (SHV) und Avenir Suisse an der Universität Bern durchgeführt hat. SGA-Präsident und Nationalrat Roland Fischer stellte dem Aufbruch von 1989, der eine Phase der Demokratisierung, des Multilateralismus und der ost-west-europäischen Integration einleitete, die jüngeren, besorgniserregenden Tendenzen in China und Russland, dessen Krieg gegen die Ukraine und die neue Blockbildung gegenüber. Peter Maurer, früher unter anderem Vertreter der Schweiz bei der UNO, Staatssekretär im EDA (was er als Fehler bezeichnete) und schliesslich Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) kennt sowohl die globalen Entwicklungen wie auch die schweizerische Politik aus eigener Erfahrung und Reflexion.

Unberechenbare Verhältnisse

In Maurers Charakterisierung sind die internationalen Gegebenheiten tatsächlich alles andere als einfach und erfreulich. Die Welt zeigt sich unsicher und instabil, in mehrfacher Hinsicht, oft auch innenpolitisch, fragmentiert. Probleme wie wachsende materielle Ungleichheit, Gewalt, Klimaerwärmung oder digitaler Wandel sind ebenso komplex wie die Konstellationen der staatlichen und nichtstaatlichen, lokalen, nationalen und transnationalen Akteure. Traditionelle Institutionen wie der Sicherheitsrat der UNO spiegeln die Kräfteverhältnisse nicht mehr oder sind wie das IKRK zur blossen Schadensbehebung verurteilt. Machtpolitik verbindet sich mit (Doppel-)Moral, Krieg weitet sich trotz Ächtung und Sanktionsmechanismen aus, und die gewaltsamen Konflikte verursachen zusammen mit der Korruption Kosten von schätzungsweise 15 bis 20 Prozent des globalen BIP.

Wie die Schweiz navigieren kann

Dem selbstmitleidigen Eindruck, unter dem «Wasserfall» der Weltprobleme sei man zur Passivität verdammt, setzte Maurer den Blick auf die Ideen, Initiativen und Handlungsmöglichkeiten entgegen, die ihrerseits zahlreich wie noch selten seien. Für die Aussenpolitik der Schweiz skizzierte er eine Reihe von Ansätzen, Aufgaben oder Chancen. Eine erste Regel laute: «navigieren statt positionieren», das heisst das reale Umfeld anzuerkennen, die eigenen Interessen zu klären und mit den globalen Anliegen in Einklang zu bringen, schliesslich Verhandlungslösungen zu suchen, die den unvermeidlichen Spannungsfeldern Rechnung tragen.

Eine Pionierrolle könnte die Schweiz etwa spielen, wenn es darum gehe, Kapital für globale öffentliche Güter zu mobilisieren. Das Konzept der Hilfe reiche nicht mehr aus, um etwa Entwicklungsprobleme zu lösen, es brauche in grossem Umfang wirkungsorientierte privatwirtschaftliche Gelder mit öffentlicher Absicherung des Risikos,  nebst einer internationalen «Autorität» gegen Korruption. In der Klimapolitik sei vom Fokus der Mitigation (Vorbeugung) abzurücken und massiv in Anpassungsmassnahmen im globalen Süden zu investieren. Ebenso könnte sich die Schweiz führend im Kampf gegen Korruption und Geldwäscherei und für den Einzug illegitimer Vermögenswerte engagieren, und zwar auf dem eigenen Finanzplatz, speziell durch Unterstellung der Rechtsanwälte unter das Geldwäschereigesetz, wie auch im internationalen Rahmen. Im Weiteren sollte die bereits aufgebaute Kooperation in der Forschung vermehrt auf praktische Anwendungen ausgedehnt werden.

Die Verhältnisse verlangen, wie Maurer ausführte, auch eine Anpassung der Diplomatie. Sie habe eine Vielzahl von Akteuren (auch aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft) in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Statt nur den Gegensatz von Multi- und Bilateralismus zu sehen, müsse man neue Partnerschaften, situative Allianzen, «communities of practice» ins Auge fassen, auch informelle Wege oder Netze benützen, sie aber mit den internationalen Institutionen und Verfahren in Beziehung bringen. All diese Kooperationen funktionierten nicht ohne Geld, hielt Maurer eher nebenbei fest; entscheidend sei aber die Bündelung der Kräfte auf bestimmte Ziele hin.

Neutralitätsfrage relativieren

Und wie steht es mit der Neutralität? Die Frage wurde auch in der von Markus Mugglin (SGA) und Christoph Lanz (SHV) eingeleiteten Diskussion gestellt. Maurer hält eine rationale Begründung der schweizerischen Neutralität schon lange für schwierig, akzeptiert jedoch deren starken Rückhalt in der Bevölkerung und tritt dafür ein, in der Folge die entsprechenden Regeln, nicht zuletzt beim Rüstungsexport, auch einzuhalten. Wesentlich ist für ihn, dass die Debatte sich nicht darauf konzentriert, was die Neutralität allenfalls verhindern könnte, sondern sich dem Vielen zuwendet, das sie ohne Weiteres erlaubt. Mindestens für einen Teil der erwähnten Vorschläge liesse sich auch eher ein Konsens erreichen als über eine Änderung des fraglichen Prinzips. Für das IKRK sei die eigene Neutralität von Bedeutung, nicht aber jene der Schweiz.

Was den Krieg gegen die Ukraine betrifft, so entspricht es nach Maurer einer gewissen Logik, dass Drittparteien ausserhalb des europäischen Konfliktraums gesucht werden, die in einzelnen konkreten Fragen wie dem Austausch von Gefangenen vermitteln und dadurch Kommunikationskanäle offenhalten. Die Aktivität von China, Indien, Brasilien oder Südafrika erklärt sich wiederum dadurch, dass diese Kontinente besonders unter den Kriegsfolgen wie der Verlagerung der internationalen Hilfe leiden. Maurer äusserte sich nicht über allfällige «Lösungen», vertraut aber auf die diskrete Diplomatie. Seinen Vortrag hatte er mit dem aussenpolitischen Rat geschlossen, ab und zu bei Aristoteles über die Grundwerte Mut und Mitgefühl nachzulesen.

Referat Peter Maurer Welt in Aufruhr Manuskript