Nüchtern-konstruktiver Blick auf den Ukraine-Krieg

von Christoph Wehrli | Dezember 2022
Im Urteil des deutschen Sicherheitsexperten Wolfgang Richter ist im Ukraine-Krieg der Kulminationspunkt noch nicht erreicht. Die Zeit scheint eher für den Angreifer zu spielen. Eine Abkehr von Maximalzielen und ein Dialog seien dringend notwendig.

Die Erfolge der Ukraine bei der Abwehr des russischen Grossangriffs und bei der Rückeroberung besetzter Gebiete könnten zu einer optimistischen Einschätzung der weiteren Entwicklung verleiten. In einer «Aussenpolitischen Aula», welche die SGA am 1. Dezember zusammen mit Avenir Suisse an der Universität Bern veranstaltet hat, ergab eine nüchterne Analyse der militärischen und sicherheitspolitischen Lage ein etwas anderes Bild. Wolfgang Richter, Generalstabsoberst a.D. und Forscher bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, sprach unter dem Titel «Krieg in der Ukraine und kein Frieden in Sicht». Seinen Vortrag ergänzte eine Fragerunde, geleitet von Markus Mugglin und Patrick Dümmler.

20 Jahre Spannungsaufbau



Richter betrachtete Russlands Aggressionskrieg – selbstverständlich ohne ihn damit zu rechtfertigen – im Zusammenhang mit der Erosion der kooperativen Sicherheitsordnung für Europa im Lauf der letzten 20 Jahre. Hatte Russland die USA bei der Intervention in Afghanistan 2001 am Rande noch unterstützt, so zeichnete sich seit dem amerikanischen Einmarsch in den Irak eine neue Blockbildung ab. Moskau, führte der auch diplomatisch erfahrene Referent aus, habe den Eindruck erhalten, dass die Nato immer näher rücke. Eine wichtige Etappe bildeten die Beschlüsse des Nato-Gipfels von 2008, als der Ukraine der Beitritt zum Pakt vorerst verweigert, aber grundsätzlich in Aussicht gestellt wurde.

Russland seinerseits griff militärisch in Georgien, Syrien und Libyen ein. Auf die Annexion der Krim reagierte dann die Nato mit einer «vorgerückten Präsenz» auf dem östlichen Bündnisgebiet. Was die schliesslich resultierende Wahrnehmung betrifft, ist sogar von einem (umgekehrten) «Kuba-Moment» die Rede, in Anspielung auf die Stationierung sowjetischer Atomraketen in Amerikas Nähe 1962. Im Rahmen der OSZE wurde viel unternommen, um geregelte Beziehungen wieder zu stärken – mit geringem Erfolg. Zum Verlust an Stabilität gehört auch eine Verminderung der Rüstungskontrolle, von der Kündigung des ABM-Vertrags durch US-Präsident George W. Bush bis zum Abbau vertrauensbildender Beobachtungsflüge. Auf russischer Seite kam zu «rationalen», diskutablen Forderungen nach Selbstbeschränkung der Nato Putins «imperiales Narrativ», das der Ukraine die nationale Identität abspricht.

Russlands Durchhaltevermögen



Nach dem militärischen Angriff auf das «Brudervolk» am 24. Februar dieses Jahres zeigte sich bald, dass die russische Führung die ukrainische Widerstandskraft völlig unterschätzt hatte, wie Richter sagte. Der Vorstoss auf sechs Achsen, erhebliche Mängel in Führung, Aufklärung und Logistik sowie eine unterlegene Kampfmoral führten zu den bekannten Rückschlägen. Trotz hohen habe der Krieg aber seinen Höhepunkt noch nicht erreicht. Ein «Siegfrieden» sei nicht in Sicht, ein Abnützungskrieg wahrscheinlicher.

Richter konstatierte indes eine Asymmetrie der Durchhaltefähigkeit. Russland hat erst einen Teil seiner Streitkräfte eingesetzt und verfügt über enorme Reserven, deren Mobilisierung allerdings gewisse, «beherrschbare» innenpolitische Risiken birgt. Die westlichen Sanktionen gegen den Friedensbrecher würden diesen erst langfristig treffen; dessen globale politische und wirtschaftliche Isolierung gelinge nicht. Die Ukraine aber werde zunehmend von Militärhilfe westlicher Staaten abhängig, zumal die gelieferten Waffensysteme Munitionsnachschub brauchen. Zugleich ist die Rüstungsproduktion im Westen begrenzt und die Unterstützung politischen Unsicherheiten ausgesetzt, wobei Richter besonders an die USA und die Bedeutung ihrer Auseinandersetzung mit China denkt.

Verzicht auf Maximalziele



Gerade in der gegenwärtigen Phase der russischen Schwäche und der Stagnation auf ukrainischer Seite bestehen nach Ansicht des Sicherheitsforschers Gefahren der Eskalation wie noch nie seit der Kubakrise. Es drohe eine Ausweitung der Kriegsziele und der Kriegführung (nukleare Warnungen/Rufe nach einem Präventivschlag gegen Russland), und wegen der Schwächung der Vereinbarungen über Rüstungsbeschränkung und Vertrauensbildung würden brisante Zwischenfälle wahrscheinlicher. «Eskalationskontrolle ist das Gebot der Stunde», folgerte Richter und plädierte für den Dialog. Die Forderung bezog sich einerseits auf die beiden grossen Nuklearmächte, auch mit Blick auf eine friedlichere spätere Zeit, in der Russland ein Nachbar und in Fragen wie der Klimapolitik oder der Terrorbekämpfung ein wichtiger Partner bleiben werde.

Anderseits gilt das Postulat für die Kriegsparteien, die einen Verhandlungsfrieden nur erreichen könnten, wenn sie auf Maximalziele verzichteten. Solche hält Richter auch nicht für realistisch; sowohl einen Zusammenbruch der Ukraine als auch eine Kapitulation Russlands schloss er aus. Die Basis einer Regelung sähe er allenfalls in den Vorschlägen der Ukraine, die sie Ende März in der Türkei präsentierte: Kein Nato-Beitritt (Neutralität), auszuhandelnder Sonderstatus für die Regionen Luhansk und Donezk, Klärung des Status der Krim erst in 15 Jahren und internationale Garantien. Die Sanktionen könnten je nach Einhaltung der Vereinbarungen gelockert oder wieder verschärft werden.

Der vor einer moralischen Aufladung der Probleme warnende Experte erwähnte auch ein zeitlich naheliegendes erstes «Fenster»: Russland und die Ukraine, beides sich als christlich verstehende Staaten, könnten für Weihnachten eine Feuerpause vereinbaren, der vielleicht Gefangenenaustausche und weitere Schritte folgen würden.




Die Veranstaltungsreihe AULA in Bern wird in Kooperation mit Avenir Suisse organisiert. Eine weitere Perspektive zum Anlass mit Wolfgang Richter können Sie auch hier lesen. Ebenso können Sie unter diesem Link ein Gespräch mit Herrn Richter im Rahmen der SRF-Reihe Tagesgespräch anhören. Die Präsentation von Herrn Richter können Sie hier abrufen.