Kolumne

Quo Vadis, Abrüstung?

von Tobias Vestner | November 2020
Da neue multilaterale Abrüstungsverträge in naher Zukunft unwahrscheinlich sind, sollte die Abrüstung mittels politischer Vereinbarungen und unilateralen Massnahmen vorangebracht werden. Die Schweiz kann als Brückenbauerin eine wichtige Rolle spielen.

Die globalen Militärausgaben während eines Tages entsprechen der jährlichen Finanzierung der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Mit den bestehenden Nuklearwaffen könnte man Millionen von Menschen direkt und Milliarden von Menschen indirekt töten. Im Jahr 2020 ist die Welt bis auf die Zähne bewaffnet und die globalen Militärausgaben steigen seit 20 Jahren. Die Abrüstung – und damit eng verknüpft die Rüstungskontrolle und Bemühungen zur Nonproliferation – sind Gegenmittel zu solchen Entwicklungen. Doch wie steht es heute um die Abrüstung – und wie soll es weitergehen?

Von der Idee des kompletten zum partiellen Waffenverzicht
Seit den späten 60er-Jahren wurde im Rahmen der UNO versucht, eine allgemeine und komplette Abrüstung herbeizuführen, d.h. ein gesamtheitlicher Verzicht auf jegliche Waffen. Da dies nicht erreicht werden konnte, haben Staaten in sich geschlossene, waffenspezifische Abrüstungsverträge vereinbart. Dies führte zum heutigen Flickwerk von multilateralen Völkerrechtsverträgen zu Massenvernichtungswaffen (Bio-, Chemie- und Nuklearwaffen) und konventionellen Waffen (zum Beispiel Personenminen und Streumunition). Das daraus entspringende Abrüstungsrecht löste sich somit vom ursprünglichen humanitären Völkerrecht (auch Kriegsvölkerrecht genannt), welches Kriegshandlungen und die Verwendung von Waffen in bewaffneten Konflikten regelt. Dessen Fokus auf den Schutz der Zivilbevölkerung wurde jedoch beibehalten und mit dem Konzept der humanitären Abrüstung gar verstärkt.

Bereits während des Kalten Krieges wurden in Sachen Abrüstung Fortschritte erzielt. Die grossen Sprünge geschahen aber danach. Möglich war dies insbesondere durch das starke Engagement von Nichtregierungsorganisationen und Kleinstaaten - zum Teil auch gegen den Willen der Grossmächte. Der Preis dafür war und ist, dass wichtige Staaten diesen Abrüstungsverträgen nicht beigetreten sind. Das jüngste und markanteste Beispiel ist der Atomwaffenverbotsvertrag von 2017, welcher demnächst in Kraft tritt, um den Nuklearstaaten und ihre Partnerstaaten aber einen weiten Bogen machen. Obwohl es dort auch darum geht, globale Normen gegen die Verwendung von Nuklearwaffen (sogenanntes «nukleares Tabu») zu bestärken, besteht das Risiko, dass solche Initiativen die Weltgemeinschaft in Zeiten der Polarisierung noch mehr spalten.

Grundsätzlich dürften Staaten ein Interesse an der Weiterführung und Verstärkung der Abrüstung haben. Bei neuen Technologien, insbesondere Cyberwaffen, weltraumbasierten Waffen und Waffensystemen mit künstlicher Intelligenz, sind sie aber sehr zögerlich. Es sieht so aus, als ob sie sich zuerst ein besseres Bild der Technologien und ihrer Möglichkeiten verschaffen wollen, bevor sie sich auf völkerrechtlich verbindliche Regelungen zur Aufgabe oder Beschränkung dieser Technologien einlassen.

Zurzeit nicht förderlich für weiterführende Kooperation ist die geopolitische Grosslage. Die neue Konfrontation der Grossmächte bringt viele Spannungen und Unsicherheiten mit sich, welche die multilaterale Kooperation erschweren. Die USA unter Präsident Trump räumten dem Völkerrecht und der internationalen Zusammenarbeit keine zentrale Rolle ein, was sich mit dem Regierungswechsel wieder ändern kann. China bringt sich hingegen aktiver in die multilateralen Gremien ein als zuvor. So ist das Land dieses Jahr wider aller Erwartungen dem Vertrag über den Waffenhandel beigetreten. Russland scheint im Moment gegenüber Abrüstungsvorschlägen anderer misstrauisch, weiss aufgrund eigener Erfahrungen aber um den Nutzen der Abrüstung.

Welche Priorität angesichts von Klimawandel und Covid-19?
Für die Zukunft der Abrüstung entscheidend ist auch deren politische Bedeutung und Priorisierung. Dies betrifft nicht nur die Grossmächte, sondern insbesondere die kleineren Staaten und die Zivilgesellschaft. Gerade letztere hat das Thema in der Vergangenheit erfolgreich auf die Agenda gesetzt und Staaten vom Handlungsbedarf überzeugt. Mit der globalen Krise durch das Coronavirus und dem internationalen Aufruf für eine aktivere Klimapolitik ist es gut möglich, dass Staaten die Abrüstung auf ihrer Prioritätenliste herabstufen und Nichtregierungsorganisationen Mühe haben werden, die öffentliche Meinung zu mobilisieren. Diese Aussichten müssen aber nicht das Ende der Abrüstung bedeuten.

Die Erfahrung zeigt, dass es andere Mittel zu nutzen gilt, solange keine neuen rechtsverbindlichen Abrüstungsvereinbarungen möglich sind. Zwar konnten ganzheitliche Verbote von Waffen(-kategorien) bis anhin nur mittels völkerrechtlicher Verträge erzielt werden. Dennoch können auch verbindliche politische Einigungen und Verhaltensnormen die Handlungen von Staaten leiten. Aktuelle Beispiele dafür sind der Cyber-Bereich, der Aufruf zur beschränkten Nutzung explosiver Waffen in besiedelten Gebieten oder die Initiative zum verantwortungsvollen Verhalten im Weltraum, die Grossbritannien im August 2020 lanciert hat.

Weiter können einzelne Staaten durch unilaterale Massnahmen, das heisst durch eigenständiges Engagement bei der Nichtverwendung gewisser Waffen, anderen Staaten den Weg aufzeigen. So folgten die multilateralen Verbote von biologischen und chemischen Waffen dem unilateralen Verzicht durch die USA. Auch ist es wichtig, dass der «Boden» für künftige Bemühungen fruchtbar bleibt. Konkret heisst das, die Abrüstungsthematik und -gremien kontinuierlich zu pflegen sowie eine entsprechende Expertise unter Staaten und Zivilgesellschaft aufrechtzuerhalten und zu fördern.

Und die Schweiz? Die Schweiz spielt weiterhin eine aktive und konstruktive Rolle. Mit einem pragmatischen, aber gezielten Ansatz nimmt sie eine wichtige Funktion als Brückenbauerin wahr. Sie bekennt sich offen zur multilateralen Abrüstung, vertritt «vernünftige» Positionen und engagiert sich für klare Abrüstungsziele und -mechanismen. Dementsprechend kann sie zwischen extremen Positionen ausgleichen und zu mehrheitsfähigen Lösungen beitragen. Gerade in Zeiten von geopolitischen Spannungen und Polarisierung ist dies wertvoll. Es ist zu hoffen, dass die Schweiz ihr Engagement mit Überzeugung und Durchhaltefähigkeit weiterführt. Vielleicht hat sie sogar den Mut, wegweisende, unilaterale Massnahmen (beziehungsweise unilaterale Massnahmen koordiniert mit Partnern) zu verabschieden. Die Erarbeitung ihrer neuen Strategie zur Rüstungskontrolle und Abrüstung und ihr kommender Einsitz im UNO-Sicherheitsrat sind dafür optimale Gelegenheiten. Initiativen aus dem Parlament können hierzu federführend sein.

Denn Fakt ist: Abrüstung ist alternativlos, denn ohne sie gilt Aufrüstung. Was aus nationalstaatlicher Perspektive durchaus Sinn ergeben kann, birgt wirtschaftliche Kosten und sicherheitspolitische Risiken. Die internationale Gemeinschaft fährt besser mit der Abrüstung.

*Tobias Vestner leitet das Programm «Security and Law» am Geneva Center for Security Policy (GCSP). Er lehrt und forscht an der Schnittstelle von Sicherheitspolitik und internationalem Recht. Tobias Vestner ist ebenfalls Honorary Senior Research Fellow an der University of Exeter und Non-resident Fellow am United Nations Institute for Disarmament Research (UNIDIR).

Der Beitrag ist die gekürzte und aktualisierte Version eines auf der Webseite der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) erschienenen Artikels.