Kolumne

Schulterschluss zwischen Bund und Kantonen in der Europapolitik

von Thomas Moser* | April 2023
Der bilaterale Weg zwischen der Schweiz und der EU ist ein Spiel, das von den Verteidigungsreihen dominiert wird. Seit 2007 werden keine wichtigen Verträge mehr abgeschlossen. Die Verhandlungen enden torlos. Als der Bundesrat am 29. März 2023 in Aussicht stellte, die Sondierungsgespräche mit der EU abzuschliessen und bis Ende Juni ein Verhandlungsmandat zu erarbeiten, verwies er auf die Kantone. Der Dialog mit ihnen habe es ermöglicht, für die Staatsbeihilfen und Zuwanderungsfragen konkrete Lösungsansätze zu definieren.

Dank den Kantonen kann der Bundesrat in Brüssel also wieder einmal in den gegnerischen Strafraum vorstossen. Der erwähnte Dialog zwischen den beiden Staatsebenen findet zwar regelmässig statt, einig war man sich in der Europapolitik aber nicht immer. Im Frühjahr 2012 etwa hatten die Kantonsregierungen den Eindruck, dass der Bundesrat der EU im Stromdossier hinter ihrem Rücken weitgehende Zugeständnisse bei den Staatsbeihilfen und bei den Umweltrichtlinien machte. Einen gegen die Interessen der Kantone beschlossener Verhandlungsabbruch später und mitten in einem Angriffskrieg in Europa haben sich die Kantone und der Bund wiedergefunden. Jetzt stärken sie dem Bundesrat den Rücken.

Warum die Kantone sich bewegen - drei Gründe


  1. Im Auftrag der KdK erarbeitete die Agentur Sensor Advice im Oktober 2021 eine Studie. Sie könnte den innenpolitischen Europadiskurs verändern. Die Studie setzt sich nämlich mit der Frage auseinander, welche Themen für die Zukunft relevant und welche Positionen mehrheitsfähig und umsetzbar sind. Folgende Handlungsmaxime wird empfohlen: das bedürfnisorientierte «Was und Warum», also die politischen Inhalte, kommt zuerst, das vertragliche «Wie» später. Wenn die Ukraine mit Unterstützung des Westens unsere Werte gegen den Aggressor Russland verteidigt, ist das Beharren der Schweiz auf der Acht-Tage-Regel als flankierende Massnahme beim Zugang von EU-Firmen in der Schweiz, um es diplomatisch auszudrücken, tatsächlich im besten Fall unverhältnismässig.

  2. Eine von den Kantonen eingesetzte Kommission erarbeitete gemäss den Empfehlungen von Sensor Advice konstruktive Lösungsansätze. Das ist Interessenpolitik, denn der Wertverlust bestehender Verträge und Abkommen ist mittlerweile für die Mehrheit der Kantone mehr oder weniger spürbar. Besonders die Hochschulkantone haben infolge des Ausschlusses aus dem Forschungsprogramm Horizon Europe schwerwiegende Nachteile. Besonders in der Nordwestschweiz kämpfen lokale Unternehmen zunehmend mit den technischen Handelshemmnissen in der Diagnostik und in der Medizintechnik. Besonders die Industriestandorte Bern und Zürich tun sich schwer mit regulatorischen Änderungen, die sich im Maschinenbau und bei den Baumaterialien immer deutlicher abzeichnen.

  3. Die Kantonsregierungen zeigen, dass sie in der Europapolitik des Bundes eine besondere Verantwortung haben. Schon im Juli 2022 haben sie in einem gemeinsam mit den Regionen im grenznahen Ausland verfassten Schreiben gegenüber Bundesrat Ignazio Cassis und EU-Kommissar Maros Sefcovic eine «strategische Entscheidung» gefordert. Sefcovic hat diesen Steilpass aufgenommen: Sein Besuch in der Schweiz am 15./16. März 2023 scheint wesentlich zum Schulterschluss zwischen Bund und Kantonen beigetragen zu haben.


Die Position der Kantonsregierungen

Am 24. März 2023 haben die Kantonsregierungen einstimmig (!) eine neue europapolitische Standortbestimmung verabschiedet. Sie bekräftigen damit ihre verfassungsrechtlich garantierten Mitwirkungsrechte. Die Kantone befürworten in künftigen Verhandlungen mit der EU:

  • eine dynamische Rechtsübernahme in den sektoralen Abkommen, vorausgesetzt sie geschieht gemäss den bestehenden innerstaatlichen Genehmigungsverfahren (Vorbehalt Zustimmung Bundesrat, Parlament, Volk);

  • einen vertraglich festgelegten Mechanismus, um Differenzen bei den Marktzugangsabkommen zu regeln. Bei Streitigkeiten zur Auslegung und Anwendung des von der Schweiz übernommenen EU-Rechts soll der EuGH die Auslegung des betroffenen EU-Rechts sicherstellen;

  • die EU-Staatsbeihilferegeln in allen Abkommen, die den Zugang zum Binnenmarkt ermöglichen. Für die Überwachung braucht es ein eigenes Verfahren, das von der EU akzeptiert wird, pragmatisch ist und den verfassungsmässigen Vorgaben in der Schweiz entspricht.


Kein Thema ist der Arbeitnehmerschutz. Der Generalsekretär der KdK schlug aber am Rande der Medienkonferenz zur Standortbestimmung vor, mit der EU auch über die bestehende Schutzklausel im Freizügigkeitsabkommen zu sprechen. Bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen soll die Schweiz vorübergehend Abhilfemassnahmen ergreifen können.

Die Kantone sind für die Aufnahme von Verhandlungen mit der EU. Ziel ist der vertikale Marktzugang mit institutionellem Überbau. Diesen Preis wollen die Kantone bezahlen, weil er massgeschneiderte Lösungen in den einzelnen Bereichen ermöglicht. Das Hauptaugenmerk ist auf das «Was und Warum» zu richten, das vertragliche «Wie» kann folgen. Der mit dem Verhandlungsabbruch vergiftete Begriff des Rahmenabkommens ist zu vermeiden. Die Frühlingsumfrage des Forschungsinstituts Gfs Bern zeigt zudem, dass die Schweizerinnen und Schweizer europafreundlicher geworden sind. Der Bundesrat hat also innenpolitisch genug Rückendeckung für die Aushandlung stabiler Verhältnisse mit der EU. Das finden zwar nicht alle gut. Es ist aber den Gewerkschaften und allen konservativen Kräften in diesem Land zu wünschen, dass sie die Europa-, aber auch die Neutralitätspolitik als das begreifen, was sie am Ende des Tages sind: Reine Interessenpolitik, damit die Schweiz die in der Verfassung verankerten (aussenpolitischen) Ziele verfolgen kann. Rückwärtsorientierte Ideologien schaden uns dagegen zusehends.

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* Dr. Thomas Moser ist Beauftragter des Regierungsrats des Kantons Bern für Aussenbeziehungen und Mitglied des Vorstands der SGA-ASPE.