Kolumne

Staatliche Souveränität und Europäische Einheit

von Gilles Grin | September 2015
Die 1950 ins Leben gerufene Europäische Gemeinschaft beruht auf einer neuen Sicht der staatlichen Souveränität. Durch den Verzicht auf deren absoluten Charakter wird der Frieden gestärkt.

Der westfälische Friede, der auf das Jahr 1648 zurückgeht, bezeugt, dass jeder Staat eine ihm innewohnende Souveränität besitzt. Die internationalen Beziehungen sind demzufolge Beziehungen zwischen souveränen Staaten. In der Folge entstanden in spezifischen Bereichen zwischenstaatliche Organisationen, meist technischer oder politischer Natur. Diese Organisationen haben mit den Staatenbundsystemen gemeinsam, dass die jeweiligen Staaten einverstanden sind zusammenzuarbeiten, jedoch ohne auf ihre Souveränität zu verzichten. Trotz seiner Vorzüge, genügt diese Art von Organisation nicht, um einen dauerhaften Frieden zu sichern.

Die amerikanische Präsenz in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg war ein Stabilitätsfaktor. Jedoch kann eine fremde Macht allein nicht Versöhnung und Frieden stiften. Dazu braucht man nur an die jüngsten Beispiele in Afghanistan und Irak zu denken. Ein scheinbares Wunder war nötig innerhalb Westeuropas. Dieses großartige Abenteuer begann 1950 mit der Monnet-Schuman Erklärung und betraf am Anfang nur einen Teil des westlichen Europas.

Der Prozess, der mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) begann, besiegelt die deutsch-französische Versöhnung und begründet ein System föderativen Friedens. Eine neue Sicht der Souveränität entsteht. Diese kann nicht mehr absolut für jeden Staat sein. Indem auf diesen absoluten Charakter verzichtet wird, wird der Frieden gestärkt.

Bei einer Ansprache 1952 hat Jean Monnet erklärt: «Seit tausend Jahren hat sich die nationale Staatsgewalt in Europa in der Entwicklung des Nationalismus ausgedrückt sowie in vergeblichen und blutigen Versuchen, die Vorherrschaft eines Landes über die anderen zu erringen. In einem System internationaler Abkommen, bleiben die nationalen souveränen Interessen erhalten, die Regierungen behalten ihre Machtbefugnisse, Entscheidungen können nur einstimmig gefällt werden. Letztendlich bleiben die Europäer untereinander geteilt. Unter diesen Bedingungen hört die Kooperation auf, sobald die nationalen Interessen divergieren, und der Krieg ist dann das letzte Mittel. Die Einrichtung von gemeinsamen Institutionen und gemeinsamen Regeln zur Verschmelzung der nationalen Hoheitsgewalten wird die Europäer unter einer gemeinsamen Autorität vereinen und die hauptsächlichen Ursachen für Konflikte beseitigen.»

Im Zusammenhang mit seinem europäischen Engagement, hat Jean Monnet 1976 in seinen Memoiren geschrieben: «Die Staatshoheit verkümmert, wenn man sie in der Vergangenheit einschließt. Damit sie lebendig bleibt, muss man sie in einen größeren Rahmen transferieren, in einen erweiterten Aktionsrahmen, wo sie mit anderen fusionieren kann, die dieselbe Entwicklung durchlaufen. Keiner wird in dieser Transferierung verlieren, im Gegenteil: Alle werden gestärkt daraus hervorgehen.»

Die Souveränitätsidee ist eine lebendige und bewegliche Wirklichkeit. Die Dynamik der wirtschaftlichen Globalisierung und das verstärkte Entstehen neuer Machtzentren auf der Welt bedeutet, dass die Europäer mehr denn je zu wählen haben zwischen einer gemeinsam ausgeübten Souveränität und deren Untergang. Man könnte meinen, dass die Souveränität für die Staaten bedeutet, was für das Individuum seine Freiheit ist, das heißt, sie trägt nur dann Früchte, wenn sie sich öffnet und mit andern geteilt wird. In unserer Welt muss man die nominelle von der effektiven Staatshoheit unterscheiden. Es ist wichtig, ihre Natur besser zu verstehen.

Selbst wenn die Europäische Union eine Föderation ist, so bildet sie keinen föderalistischen Staat. Die letzte Entscheidungsbefugnis bleibt in den Händen der Mitgliedsstaaten, d.h. die Verträge können nur einstimmig verändert werden. Bestimmte sensible Bereiche sind weiterhin beherrscht von der zwischenstaatlichen Politik: die Außenpolitik, die Verteidigung, das Steuerwesen, die Sozialpolitik.

Es gibt keine europäische Regierung, sondern eine Exekutivgewalt, die de facto geteilt ist zwischen dem Europäischen Rat (in dem die Staats- und Regierungschefs vertreten sind), dem Rat der Europäischen Union (in dem die nationalen Minister vertreten sind) und die Europäische Kommission (historische Wächterin der gemeinsamen Interessen). Die Mitgliedsstaaten wollten nicht, dass die Europäische Kommission sich als Regierung der Gemeinschaft etabliert.

Außer im monetären Bereich, der von der Bundespolitik beherrscht wird, herrscht ein abgeschwächter Föderalismus vor, der die «europäische Methode» genannt wird. Im Zentrum dieser Methode befinden sich zwei Elemente, eine legislative Zweikammerpolitik, bei der die Vertreter der Bürger in allgemeinen direkten Wahlen gewählt werden (das Europäische Parlament) und die Vertreter der Mitgliedsstaaten, die ihre Entscheidung mit einer qualifizierten Mehrheit fällen können (der Rat der Europäischen Union). Das hat viel Ähnlichkeit mit der Schweiz.

Das zweite Element im Zentrum der europäischen Methode ist eine Institution, die das gemeinsame Interesse vertreten soll und das Monopol der gesetzgebenden Initiative hat: Es handelt sich um die Europäische Kommission. Das politische System Europas hat etwas Zwitterhaftes. Immer mehr stellt sich das folgende Dilemma für die Kommission: Eine nicht politisierte Sachkompetenz zu demonstrieren, die das gemeinsame Interesse sucht oder Ausdruck einer politischen Mehrheit des Europäischen Parlaments zu sein. Aber ist das im Grund so verschieden von unserem Bundesrat?

Traditionellerweise existiert eine politische Kultur des politischen Einvernehmens in der EU wie in der Schweiz, selbst wenn beide sich damit schwer tun. Die EU und die Schweiz sind auf Institutionen aufgebaut. Im europäischen Ministerrat ist die Praxis des Mehrheitsvotums sehr selten. Es spielt eher die Rolle eines Damoklesschwerts, um nationale Exzesse zu verhindern und einen Konsensus zu erzwingen. Diese Suche nach dem Konsensus und diese vermeintliche Langsamkeit erinnern uns wiederum an die Schweiz.

Die EU hat eine Rechtsordnung sui generis geschaffen, die außer aus den Verträgen auch aus Abkommen, Anweisungen und Entscheidungen besteht. Der Europäische Gerichtshof überwacht die einheitliche Interpretation dieser Rechtsprechung. Gemeinsame politische Initiativen wurden ins Leben gerufen. Ein innerer Markt kam zustande. Die EU hat sich eine Charta der Grundrechte gegeben. 19 der 28 Mitgliedsstaaten der Union haben die gleiche Währung und arbeiten an einer gemeinsamen wirtschaftlichen Führung. Kurz gesagt, es ist viel erreicht worden dank der Zusammenlegung der nationalen Staatsgewalt in einstimmig ausgewählten Bereichen.

Die EU hat zu einer Befriedung Europas geführt; sie bestärkt die Demokratie und die Grundrechte in ihren Mitgliedstaaten; sie hat zu einem größeren Wohlstand geführt; sie allein kann es ermöglichen, dass die Europäer eine Stimme haben, die zählt in dieser vielpoligen, aber nicht multilateralen Welt. Die EU und ihre Vorläufer-Gemeinschaften wären machtlos gewesen, wenn sie nur eine zwischenstaatliche Politik betrieben hätten. Es ist die einvernehmliche Delegierung von Staatshoheit auf bestimmten Gebieten und deren gemeinsame Ausübung, die der EU ihren einzigartigen Charakter gibt.

Die Schweiz hat einen anderen historischen Werdegang als ihre Nachbarn. Sie war kurz nach dem Zweiten Weltkrieg nicht bereit, dem Gemeinschaftsmodell beizutreten, das die Gründungsväter Europas entworfen hatten. Und sie scheint auch heute nicht dazu bereit sein. Die Schweiz legt Wert auf die Erhaltung dessen, was sie als ihre nationale Souveränität betrachtet, und will gleichzeitig Nutzen ziehen aus dem Zugang zum großen europäischen Markt. Schematisch gesehen, scheint die Schweiz zugleich eine europäische Vorherrschaft zu fürchten, die ihre halbdirekte Demokratie gefährdet, und auf der anderen Seite fürchtet sie ihre ökonomische Marginalisierung.

Der Autor, Gilles Grin, ist Kursleiter an der Universität von Lausanne und Direktor der Jean Monnet-Stiftung für Europa. Er äußert sich in eigenem Namen und seine Ansichten sind nicht bindend für die Institutionen, in denen er Mitglied ist.