Kolumne

EU-Wahl: Brüssel erhält Gegenwind aus dem Osten

von Sereina Capatt* | May 2024
Knapp ein Drittel der Sitze im Europäischen Parlament (208 von 720) gehen an Abgeordnete aus Zentral- und Osteuropa (CEE). Die Wahlen vom 6.-9. Juni mobilisieren die Wählerinnen und Wähler der Region und es sind Siege einiger Europa-kritischen Stimmen zu erwarten.

In Europa wird gewählt und im Osten geht keiner hin. Bei den letzten EU Parlamentswahlen 2019 nahmen nur gerade 25% der slowakischen Bevölkerung an den Wahlen teil. Ein ähnliches Bild zeigte sich in Kroatien, Bulgarien, Slowenien, Tschechien und Lettland. Insgesamt war die Wahlbeteiligung in den 11 CEE-Mitgliedsstaaten der Europäischen Union  deutlich tiefer als in westlichen Ländern wie Dänemark (66%), Deutschland (61%) oder Frankreich (50%). 2024 dürfte sich dies ändern: Das Interesse an den europäischen Wahlen ist in den meisten Ländern Zentral-und Osteuropas deutlich höher. Gemäss der aktuellsten Eurobarometer-Umfrage vom April gaben in Slowenien zwei Drittel der Befragten an, dass sie wählen werden.

Krieg, Umwelt- und Agrarpolitik: Was mobilisiert

Die Auswirkungen der Covid-Pandemie, der Krieg in der Ukraine und die neuesten Entwicklungen in der EU-Agrar- und Umweltpolitik (zum Beispiel die  Umsetzung des Green Deal) mobilisieren die Wählerschaft in Zentral- und Osteuropa. Was die Relevanz der Themen angeht, sind sich die 27 Mitgliedstaaten einig. Der Fokus liegt auf der Verteidigungspolitik und der Förderung der Wirtschaft und der Schaffung neuer Arbeitsplätze, wobei die Sicherheit durch die Nähe des Krieges in der Ukraine erwartungsgemäss bei der Wählerschaft in CEE noch stärker gewichtet wird.

Die Einigkeit auf Ebene der Themen darf jedoch nicht über die Polarisierung der politischen Lage in der EU insgesamt und innerhalb der CEE-Region hinwegtäuschen. Gemäss Wahlprognosen liegen anti-europäische Populisten in neun EU-Mitgliedstaaten vorn, unter ihnen Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn.

Polen: PiS hat Auftrieb

Die Wahlen am 9. Juni kommen zu einer Zeit, in der sich auf nationaler Ebene in der CEE-Region  einiges bewegt. Ein Beispiel ist Polen, wo die rechts-konservative und EU-skeptische Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS, zu Deutsch Recht und Gerechtigkeit) bei Regional- und Lokalwahlen im April das beste Resultat erzielte – obwohl die pro-europäische Koalition unter Donald Tusk bei den nationalen Parlamentswahlen im Oktober 2023 noch als Siegerin hervorging. Entsprechend optimistisch ist PiS-Anführer Kaczyński nun auch, dass seine Partei bei den Europawahlen die meisten Stimmen macht.

Wahl zwischen «Brüssel oder der ungarischen Freiheit»

Keine Bewegung dürfte ins ungarische Machtgefüge kommen: Ministerpräsident Viktor Orban mahnte seine Landsleute kürzlich in einer Rede, Ungarn müsse bei den Wahlen im Juni zwischen "Brüssel und der ungarischen Freiheit" wählen. 2024 zählt Polen 25 Jahre NATO- und 20 Jahre EU-Mitgliedschaft. Doch Festlichkeiten dazu dürfte es zumindest von den Anhängern Orban’s Fidesz Partei keine geben. Im Gegenteil, Orban ist weiter auf Konfrontationskurs mit der EU. Die neueste Provokation der ungarischen Regierung ist die Einladung an China, chinesische Polizeibeamte in Budapest patrouillieren zu lassen. Die EU-Parlamentarierin Katalin Cseh nennt dies eine “ausländische Einmischung in EU-Angelegenheiten”. Andere weisen auf die Gefahr für die Freiheiten der chinesischen Diaspora in Europa hin.

Bei den EU-Wahlen in Ungarn wird Orbans Fidesz-Partei als klare Siegerin hervorgehen,  und Ungarn wird den Vorsitz im EU-Rat in der zweiten Jahreshälfte 2024 dazu nutzen, seine eigene Agenda zu fördern. Viktor Orban bleibt eine Herausforderung für die EU. Die Frage, wie ihre Institutionen mit einem Mitgliedstaat umgehen, das sich von den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit entfernt, bleibt  dürfte durch die erwartete Erstarkung der Anti-Europäer im EU-Parlament für noch mehr Diskussionen sorgen.

Mehr Wahlbeteiligung ist nicht gleich mehr Annäherung

Es ist zu bezweifeln, dass die wohl höhere Wahlbeteiligung in CEE auch eine Annäherung der Region an die Europäische Wertegemeinschaft bedeutet. Sogar Donald Tusk bringt das Bild der ''guten EU'' nicht zurück nach Polen, wie Wojciech Przybylski, Chefredakteur von Visegrad Insight, einem politischen Think-Tank in Warschau, kürzlich sagte. Tusk konzentriert sich darauf, dass Europa ein Instrument für die nationale Sicherheit bleibt.

Viele EU-skeptische Politikerinnen und Politiker in der Region bedienen sich der Narrative, die man von Donald Trump in den USA kennt. Make Europe Great Again – “Europa wieder gross machen” - war Ende April der Slogan an einer internationalen Konferenz in Bukarest, die von der Allianz für die Einheit der Rumänen (AUR), einer rechtspopulistischen Partei mit guten Wahlchancen am 9. Juni, gesponsert wurde. Donald Trump lobte derweil Viktor Orbans Aussen- und Einwanderungspolitik   dessen Besuch in Washington im April.  Viktor Orbans Verständnis von Sicherheit baut auf einem Bild von Ungarn als unabhängige Festung, in der Einmischung von aussen nicht geduldet ist – es sei denn, sie sei explizit angefragt (wie im Fall der chinesischen Patrouillen). Bei den EU-Wahlen setzt die Fidesz-Partei auf dieses Bild der Abschottung und wirft der EU und der Biden-Regierung in den USA gleichzeitig vor, den Krieg in der Ukraine zu befeuern, indem Russland aus der Diskussion einer gemeinsamen Sicherheitslösung ausgeschlossen wird.

Die unterschiedliche Perzeption der Sicherheitslage und die politischen Schlüsse daraus dürften EU-Wahlen in Zentral- und Osteuropa entscheiden. Eine äusserst spannende Phase sowohl für die EU, als auch die politische Entwicklung der Länder in CEE selbst: Das Bedürfnis nach Sicherheit innerhalb der europäischen Allianz im Kontext des Ukrainekrieges kann eine Chance sein für die EU. Es ist durchaus positiv zu werten, dass sich die Wählerschaft für die Zukunft Europas interessiert und von ihrem demokratischen Recht auf europäischer Ebene Gebrauch macht. Doch der Gegenwind gegen einen gemeinsamen Sicherheitsraum Europa dürfte sich mit den Wahlen noch verstärken –        auch in vielen Ländern Zentral- und Osteuropas, und auch befeuert durch Donald Trumps Wahlkampf in den USA.

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*Seraina Capatt ist Co-Geschäftsfüherin des think tank foraus und neu im Vorstand der SGA-ASPE. Sie hat einen Bachelor in Internationale Beziehungen, einen Master in Osteuropa-Studien und Politikwissenschaft und arbeitete bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung im Bereich nachhaltige Stadtentwicklung in Osteuropa und Zentralasien.