Europapolitik: Blicke über aktuelle Details hinaus

von Christoph Wehrli | März 2023
Die geopolitischen Veränderungen des letzten Jahres machen eine zukunftsorientierte Klärung der schweizerischen Beziehungen zur Europäischen Union noch wichtiger als bisher. An einer Veranstaltung der SGA ist in diesem Sinn über verschiedene Ansätze diskutiert worden, die aus dem gegenwärtigen Stillstand hinausführen könnten.

In ihren Sondierungsgesprächen über die Zukunft des bilateralen Weges sollen Bern und Brüssel zwar Fortschritte gemacht haben, doch ist immer noch nicht sicher, ob die Schweiz aus der europapolitischen Sackgasse herausfindet, in die sie vor bald zwei Jahren geraten war, als sie die Verhandlungen über institutionelle Fragen abbrach. In einer von Markus Mugglin moderierten Aussenpolitischen Aula an der Universität Bern hat die SGA nun drei kürzer- oder längerfristige Optionen zur Diskussion gestellt, die in letzter Zeit in Publikationen zur Sprache gebracht worden sind.

Erweiterter bilateraler Pakt

Isabel Knobel präsentierte den im Rahmen von foraus (Forum Aussenpolitik) ausgearbeiteten Vorschlag eines «bilateralen Pakts». Er geht von einer Gesamtbetrachtung der globalen Entwicklung aus, die von einer Rückkehr des Blockdenkens geprägt ist und ein geeintes Handeln Europas erforderlich macht. Die Schweiz und die EU sollten daher bei der Weiterentwicklung der bilateralen Verträge die Gemeinsamkeit ihrer politischen Werte bekräftigen, zum Beispiel in Form einer Erklärung. Zur Lösung der aktuellen Streitfragen werden in dem Papier des Think Tanks die Bedürfnisse beider Seiten beleuchtet und dann konkrete Kompromisse skizziert. Innenpolitische Massnahmen könnten bestimmte Regelungen flankieren, so etwa ein System zum Ausgleich neuer kantonaler sozialer Lasten bei Übernahme von Teilen der Unionsbürgerrichtlinie (Personenfreizügigkeit). Als weitgefasster Rahmen einer Partnerschaft würde ein solcher Pakt auch den Weg zur Zusammenarbeit in Forschung, Stromwirtschaft und weiteren Bereichen (wieder) freimachen.

Die Idee ist, wie Knobel festhielt, mit dem Ansatz des Bundesrats vereinbar; man könnte auch sagen, sie gehe im rechtlich verbindlichen Kern kaum darüber hinaus. Die Referentin betonte indes die Einbettung in einen neuen Diskurs, der sich auf die Chancen und nicht auf die Hindernisse konzentriert, sich dem grösseren Kontext und nicht nur den technischen Einzelheiten widmet. Eine weitergehende Integration wird denn auch keineswegs abgelehnt.

Mitbestimmung statt Anpassung

Nicola Forster (Gründer von foraus und Ko-Präsident der Zürcher GLP)) favorisiert in einem gemeinsam mit dem Europaparlamentarier Andreas Schwab verfassten Buch einen Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Da er kurzfristig verhindert war, sprang in der Diskussion der ebenfalls grünliberale Nationalrat und SGA-Präsident Roland Fischer ein. Die von Volk und Ständen 1992 verworfene Form der Beteiligung am europäischen Binnenmarkt rückt für die GLP wieder ins Blickfeld, da die Partei die Zukunft des bilateralen Wegs für ungewiss hält. Mit der Methode einzelner Verträge hinke die Schweiz der Entwicklung der EU ohnehin stets hinterher, die Sache werde immer mehr zum Murks sagte Fischer. Auf die Stufe des Freihandels (Zollabbau ohne Rechtsangleichung) zurückzugehen, wäre aber kein Ausweg, wie es auch die Situation von Grossbritannien demonstriere. Als nächsthöhere Stufe erhielte der auf die vier wirtschaftlichen Freiheiten beschränkte EWR in der Schweiz mehr Unterstützung als ein Beitritt zur EU. Für die heutigen drei Mitglieder scheine er zu einer dauerhaften Lösung geworden zu sein.  Fischer verschwieg allerdings auch nicht den bleibenden Nachteil der Konstruktion, den Zwang zur Rechtsübernahme ohne Mitbestimmungsrecht.

Dieses «Demokratiedefizit» des bilateralen Wegs und des EWR war für Matthias Oesch, Europarechtsprofessor an der Universität Zürich und Mitglied des SGA-Vorstands, ein zentraler Grund,  in einem zusammen mit David Campi veröffentlichten Buch näher zu untersuchen.  Heute werde etwa die Hälfte des Bundesrechts direkt oder indirekt (bei Anpassung ohne vertragliche Pflicht) durch Erlasse der EU beeinflusst. Im EWR, dessen Dynamik man 1992 unterschätzt habe, seien jährlich 400 bis 500 Rechtsakte zu übernehmen. Als Mitglied der Union wäre die Schweiz hingegen an der Rechtsetzung beteiligt, und zwar als einer der kleineren Staaten mit überproportionaler Stimmkraft. Allerdings würden die Volksrechte zumindest faktisch weiter eingeschränkt. Zudem müsste wegen der häufigen Präsenz in Brüssel der Bundesrat vergrössert und das Präsidium gestärkt werden – mit grundsätzlichen Folgen für das konsensorientierte Regierungssystem.

Kleine Schritte und grosse Visionen

Niemand widersprach der Feststellung, dass die erwähnten Optionen (Freihandel, Bilaterale, EWR und EU) die einzigen realistischen seien. Der Status quo gehöre nicht dazu – da es einen festen Zustand gar nicht gibt, vielmehr eine Erosion der den laufenden Neuerungen nicht angepassten Verträge. Weil dieser Prozess schleichend verläuft und jeweils nur spezifische Bereiche betrifft, wird der Schaden nach Oeschs Einschätzung noch zu wenig bemerkt. Auch die gegenwärtige Politik der kleinen Schritte könnte – so eine Stimme aus dem Publikum - in Zweifel gezogen werden, da sie ein weiter zielendes Vorgehen erschwere. Einzubeziehen wäre dabei zudem die sicherheitspolitische Dimension über den Nachvollzug der Sanktionen gegen Russland hinaus, also auch die Frage einer Annäherung an die Nato bis hin zu einem Beitritt. Solche Perspektiven wollte namentlich Roland Fischer offenhalten. Bescheidenere Lösungen, wie sie heute im Vordergrund stehen, sind nach Oesch indessen eine Gelegenheit, Erfahrungen zu sammeln und Ängste abzubauen, nicht zuletzt was den Europäischen Gerichtshof betrifft. Einseitig negativen Bildern der EU ist, wie verschiedentlich betont wurde, in jedem Fall entgegenzutreten.