Kolumne

Keine protektionistischen Folterwerkzeuge

von Hans-Jürg Fehr | November 2019
Der Lohnschutz ist zum Hindernis gemacht worden für ein Rahmenabkommen mit der EU. Wer hat diese unmögliche Situation herbeigeführt? Und wie läuft es umgekehrt: Wie „protektionistisch“ ist der deutsche Lohnschutz? Eine Recherche der Unia zeigt, dass Lohnschutz sich durchaus mit der Personenfreizügigkeit verträgt.

Es ist nicht Frankreich, das den schweizerischen Lohnschutz attackiert. Es ist nicht Italien und seit längerem auch nicht mehr Österreich (Vorarlberg). Diese Nachbarländer haben gegen die Flankierenden Massnahmen nichts einzuwenden oder wenigstens nicht so viel, dass sie deswegen auf die Barrikaden gingen. Beim näheren Hinsehen ist auch nicht Deutschland der Ursprung der Polemik. Es ist nicht einmal Baden-Württemberg, wie gelegentlich zu lesen ist. Es sind die Arbeitgeber dieses Bundeslandes, organisiert in acht Handwerkskammern. Sie verabschiedeten im Oktober 2015 eine Resolution, die sich liest wie die Blaupause für die Verhandlungen der EU-Delegation mit dem Bundesrat über ein institutionelles Rahmenabkommen. Da tauchen sie auf, die angeprangerten „Flankierenden“: 8-Tage-Voranmeldefrist, Kautionen, Bussen bei Verstössen, zu viel Bürokratie.

Drei Strippenzieher
Die Unia-Recherche* deckt auf, wie es den Handwerkskammern eines deutschen Bundeslandes gelang, die ganze EU in ihren Sack zu stecken. Es waren drei Strippenzieher an der Arbeit, allesamt CDU-Mitglieder, allesamt aus Baden-Württemberg stammend oder hier ausgebildet, allesamt auf wichtigen Positionen in der EU sitzend: Andreas Schwab, Mitglied der Binnenmarktkommission des Europaparlaments und neu Vorsitzender der EU-Delegation für die Schweiz vertritt auffällig fundamentalistisch die Unternehmerfreiheiten; Martin Selmayr, die linke und rechte Hand von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und als solcher Koordinator der Verhandlungen der EU-Kommission mit dem Bundesrat; Günther Oettinger, früherer Ministerpräsident von Baden-Württemberg und als (noch) amtierender EU-Kommissar für Energie verärgert über die Schweiz, weil sie mit dem Stromabkommen nicht vorwärts macht.

Dieses Trio sorgte für eine optimale Transmission der baden-württembergischen Arbeitgeberinteressen zur deutschen Bundesregierung und vor allem zur EU-Kommission. Gestützt wurden die Taktgeber von den deutschen und österreichischen Vertretungen in der „Trinationalen Arbeitsgruppe Deutschland-Österreich-Schweiz“, die anlässlich der Einführung der Personenfreizügigkeit gebildet worden war. Im Gegensatz zur Schweiz entsenden die zwei Nachbarländer keine Gewerkschafter in diese Arbeitsgruppe. Da braucht man sich nicht zu wundern, wenn Klagen von Seiten der Unternehmer in diesem Gremium auf sehr viel Wohlwollen stossen, und der Arbeitnehmerschutz unter ferner liefen rangiert.

Wenn der schweizerische Lohnschutz so hoch wäre wie von dieser Seite behauptet, müsste erwartet werden, dass deutsche Unternehmen auf die Entsendung von Arbeitnehmenden verzichten. Die Unia-Studie deckt auf, dass das Gegenteil der Fall ist: Rund 40‘000 Arbeitnehmende werden jährlich in die Schweiz auf Arbeit gesandt und erzielen hier für ihre Firmen Milliardenumsätze. Diese intensive Beschickung des schweizerischen Arbeitsmarktes ist für die Studienautoren ein deutlicher Hinweis darauf, dass die FLAM keine „protektionistischen Folterwerkzeuge“ sein können, wie das die arbeitgeberfreundliche „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ wiederkehrend behauptet. So masochistisch sind deutsche Unternehmer nicht. Sie schätzen vielmehr die guten Geschäfte, die sie in der Schweiz mit entsendeten Arbeitnehmenden machen können. Weniger schätzen sie die doch zahlreichen Bussen und Dienstleistungssperren, die gegen sie verhängt werden, weil sie gegen schweizerisches Recht verstossen haben. Deutsche Arbeitgeber, und nicht solche aus Polen oder anderen neuen EU-Mitgliedstaaten, sind diesbezüglich Spitze, und dies erklärt ihren Kampf gegen die FLAM.

Deutsches Abwehrdispositiv
Kaum diskutiert wurde bisher in der Schweiz die Frage, wie es eigentlich in umgekehrter Richtung laufe. Auch dazu liefert die Unia-Studie Informationen: Die Zahl der von Schweizer Firmen über die deutsche Grenze entsandten Arbeitnehmenden ist ungleich kleiner, etwa 1500 pro Jahr. Das hat sicher verschiedene Gründe, aber einer davon ist offenkundig das deutsche Abwehrdispositiv gegen Entsandte. Es verfügt über andere Methoden, ist in seiner Wirkung aber mindestens so „protektionistisch“ wie die Schweizer FLAM. Die Verfasser der Unia-Studie stellen dieses Abwehrdispositiv ausführlich dar und zitieren mehrere Schweizer Arbeitgeber, die einschlägige Erfahrungen damit gesammelt haben.

Die an sich schon bizarre Behauptung, der Lohnschutz vertrage sich nicht mit der Personenfreizügigkeit, wird angesichts der in der Unia-Studie aufgezeigten realen Verhältnisse noch absurder.

*Joel Bühler, Andreas Rieger, Michael Stötzel. Der Angriff der süddeutschen Arbeitgeber auf den Schweizer Lohnschutz. Bern 2019. Zu beziehen bei: Unia Zentralsekretariat, Postfach 272, 3000 Bern 15.