Kolumne

Nein zum Ausserkraftsetzen unserer Menschenrechte

von Andrea Huber | Juni 2018
Die sich selbst inszenierenden Retter der Demokratie setzen in Wirklichkeit unseren Schutz durch die Menschenrechte, die Unabhängigkeit unserer Richter und die Verlässlichkeit der Schweiz aufs Spiel.

Wer die Nationalratsdebatte zur sogenannten Selbstbestimmungs-Initiative («Schweizer Recht statt fremde Richter») mitverfolgt hat, war betroffen von der Aggressivität, dem Verdrehen von Tatsachen und den blanken Lügen: Die Initiative sei die letzte Möglichkeit, unsere Demokratie zu retten. Ein kalter Staatsstreich sei im Gange. Wir seien zu Marionetten der sogenannten Eliten und fremden Richter degradiert worden. Bundesrichter würden ihre Macht missbrauchen. Ihr Umgang mit Völkerrecht gleiche einem Giftgaseinsatz. Die SVP inszenierte sich einmal mehr als Retterin des Vaterlandes und brandmarkte die anderen Parteien, den Bundesrat und die Bundesrichter als Landesverräter. Sie segelt mit falscher Flagge von Patriotismus und ist an Absurdität kaum zu überbieten. Denn tatsächlich ist diese Initiative ein Angriff auf die Demokratie. Dabei spielt das Ausserkraftsetzen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) eine zentrale Rolle. Die von der Schweiz 1974 ratifizierte Konvention dient der Schweiz und den weiteren 46 Mitgliedern des Europarates als Mindeststandard für Grundrechte. Die EMRK ist den Initianten ein Dorn im Auge, da sie just jene Sicherheitslücke schliesst, welche die rechtskonservative Partei nutzen möchte, um ungehindert menschenrechtswidrige Volksinitiativen eins zu eins umsetzen zu können.

Die trügerische Selbstbestimmungs-Initiative ist ein Angriff auf den Menschenrechtsschutz
In der Schweiz besteht eine Sicherheitslücke im Grundrechtsschutz, weil wir kein Verfassungsgericht haben: Unsere Bundesverfassung kann jederzeit von einer Mehrheit der Stimmbevölkerung geändert werden. Davon sind die Grundrechte nicht ausgenommen. Das Parlament kann ebenfalls Gesetze verabschieden, welche Grundrechte verletzen. Mit Anwendung der EMRK kann das Bundesgericht die Grundrechte trotz fehlender Verfassungsgerichtsbarkeit schützen.

Die Initiative schiebt dem Bundesgericht einen Riegel: Neu wäre nur noch Völkerrecht massgebend, dessen Genehmigungsbeschluss dem Referendum unterstanden hatte (neuer Artikel 190 BV). Das war bei der Ratifizierung der EMRK nicht der Fall. Das Bundesgericht dürfte die EMRK nicht mehr anwenden. Damit wird der Grundrechtsschutz gleich mehrfach eliminiert. Denn auch der Schutz durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegen mögliche Fehlbeurteilungen der Schweizer Gerichte oder gegen Grundrechtslücken in Gesetzen fällt mit Annahme der Initiative weg. Stellt der EGMR eine Vertragsverletzung fest, ist dieser heute für die Schweizer Gerichte (und alle Gerichte der Mitgliedstaaten des Europarates) verbindlich und Grundlage für die Revision eines Urteils. Neu wären Urteile des EGMR faktisch wirkungslos.

Dass wir den Schutz durch die EMRK immer wieder brauchen, zeigen zahlreiche Beispiele aus der Vergangenheit. Wegweisende Urteile betrafen den fehlenden Zugang zu Gerichten für Asbestopfer wegen zu niedrigen Verjährungsfristen, eine fehlende gesetzliche Grundlage für Observationen von Versicherten, das Anpassen der für Frauen und Teilzeitarbeitende sogenannten «gemischten Methode» der IV. Wegen Urteilen des EGMR wurden unabhängige Haftrichter_innen eingeführt oder das Recht auf ein unabhängiges Gericht. Dank der EMRK musste 1981 die Praxis der sogenannten «administrativen Verwahrungen» eingestellt werden, welche ohne Gerichtsverhandlung zur Wegsperrung von Tausenden von Jugendlichen und Erwachsenen geführt hatten. Dank der EMRK werden Lücken in unseren Gesetzen oder Ungenauigkeiten in der Rechtsprechung sichtbar und können korrigiert werden. Dank der EMRK und den Urteilen des EGMR gab es zahlreiche verfahrensrechtliche Fortschritte wie das Recht auf anwaltliche Vertretung, auf einen unabhängigen Richter oder auf ein faires Verfahren.

In der aktuellen Diskussion kommt immer wieder die Frage auf, ob diese Initiative zu einer Kündigung der EMRK führen würde oder nicht. Diese Frage bedarf einer differenzierten Antwort.

Will die SVP, dass die EMRK gekündigt wird? Hier ist die Antwort klar: Ja. Diese Forderung gehört schon länger zur politischen Agenda der Partei. Bundesrat Ueli Maurer hatte bereits am 19. November 2014 in der Bundesratssitzung Antrag auf Kündigung der EMRK gestellt (SRF, Echo der Zeit, 20.11.2014). Diese Forderung manifestierte sich in zahlreichen parlamentarischen Vorstössen.

Muss die EMRK gekündigt werden? Nicht automatisch. Die Annahme der Initiative bedeutet nicht eine Kündigung der EMRK, doch der Vertragsbruch mit Bestimmungen der EMRK würde autorisiert. Wenn das Bundesgericht nicht mehr in vollem Umfang an die Bestimmungen der EMRK gebunden ist, schwächt dies unmittelbar den Grundrechtsschutz in der Schweiz - auch ohne Kündigung der Konvention.

Der Initiativtext sieht in Artikel 56a, 2 vor, dass im Fall eines Widerspruchs zwischen der Schweizer Bundesverfassung und völkerrechtlichen Verpflichtungen Anpassungen an die Vorgaben der Bundesverfassung vorgenommen werden, nötigenfalls durch Kündigung der betreffenden völkerrechtlichen Verträge. Die EMRK kann aber nicht «neu verhandelt und angepasst werden». Das wissen auch die Initiant_innen. Denn die EMRK gibt es nicht à la carte. Bei Widersprüchen zur EMRK bleibt also nur die Kündigung, wie die SVP in ihrem Argumentarium (S.34) deutlich macht.

Gemäss vorgesehener Übergangsbestimmungen beziehen sich die neuen Regelungen auf alle bestehenden Verträge. Es gibt in der Bundesverfassung bereits heute Widersprüche im Sinne von Art. 56 a: So etwa das Bauverbot für Minarette. Deshalb kann nach Annahme der Initiative die Kündigung der EMRK sofort verlangt werden.

Nicht im Interesse der Schweiz
Diese Initiative zielt primär auf die Menschenrechte ab. Der Schaden wäre aber auch gross für die Wirtschafts- und die Aussenpolitik des Landes. Die Schweiz würde sich als verlässliche Handelspartnerin ins Abseits stellen, sie wäre auf internationalem Parket eingeschränkt handlungsfähig, die Gewaltenteilung würde untergraben und Rechtsunsicherheit wäre die Folge. Kann das im Interesse der SVP sein? Was wollen diese selbst ernannten Retter der Schweiz denn wirklich? Sie wollen die direkte Demokratie dazu nutzen, die bewährten Checks & Balances aus den Angeln zu heben. Wenn die Mehrheit alles darf, sind populistischen Volksbegehren auf Kosten von Minderheiten keine Grenzen mehr gesetzt. Damit lassen sich Wählerstimmen generieren. Der grosse Widerstand gegen dieses demokratie- und menschenrechtsfeindliche Ansinnen wird das Gegenteil beweisen: Organisationen und Vereine, alle anderen Parteien, die Wirtschaftsverbände und die Gewerkschaften – alle setzen mit einem starken Engagement im Abstimmungskampf ein Zeichen dafür, dass wir unsere Rechte, unsere Demokratie und unsere Schweiz wirkungsvoll verteidigen. Wir sind bereit!

*Andrea Huber ist Initiantin und Geschäftsführerin von Schutzfaktor M, der «Allianz der Zivilgesellschaft gegen die Selbstbeschneidungs-Initiative» mit über 100 zivilgesellschaftlichen Organisationen (www.sbi-nein.ch).