Veranstaltungsbericht

Tag der Aussenpolitik 2024; Alternativen zum Rückzug in einer instabilen Welt

von Christoph Wehrli | April 2024
Die Zukunft Europas, die Rolle des humanitären Völkerrechts und das Verhalten der Schweiz in den grossen Krisen der Welt: Das Themenspektrum am Tag der Aussenpolitik der SGA-ASPE war breit. Die verbindende Grundaussage lautet: Gerade in der gegenwärtigen «Polykrise» bieten Strukturen für gemeinsames Handeln, universale menschliche Werte und ein entsprechendes schweizerisches Engagement Perspektiven und sind zu stärken.

Zusammen mit der Europäischen Bewegung Schweiz und dem Forum Aussenpolitik (foraus) hat die SGA auch dieses Jahr hochrangige Referenten und zahlreiche Interessierte am 27. April zum Tag der Aussenpolitik in Bern zusammengeführt. Namentlich die bevorstehenden Europawahlen, das 75jährige Bestehen der Genfer Rotkreuzkonventionen, die Ukraine-Konferenz vom kommenden Juni sowie die Auseinandersetzungen um die Rolle der Schweiz waren Anknüpfungspunkte für die Vorträge und Diskussionen. Moderiert wurde die Veranstaltung von Markus Mugglin, Mitglied des SGA-Vorstands. Gleichentags trat Nationalrat Jon Pult als Nachfolger von Roland Fischer sein Amt als neuer Präsident der Gesellschaft an.

Freiheitliche Demokratie in und mit der EU

Der russische Krieg gegen die Ukraine fordert nicht zuletzt eine grössere Handlungsfähigkeit der Europäischen Union, die selber in internen Schwierigkeiten steckt. Jean Asselborn, von 2004 bis 2023 Aussenminister von Luxemburg und just an seinem 75. Geburtstag Gastredner bei der SGA, kann sich nicht an eine ähnliche Häufung von Problemen erinnern. Die Friedensfunktion der EU, die an deren Ursprung stand, rückt wieder in den Vordergrund. Asselborn betonte aber auch die im Unionsvertrag festgehaltene Verpflichtung auf Grundwerte wie Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die politische Solidarität gebiete es, auf Verstösse von Mitgliedstaaten gegen diese Prinzipien zu reagieren, in erster Linie durch Sperrung von Kohäsionszahlungen. Die Institutionen zur Machtbegrenzung seien besonders vor dem Hintergrund zu verteidigen, dass sich Russland seit gut zehn Jahren auf dem Weg zur Diktatur befinde. Bei den Europawahlen im Juni sieht der Sozialdemokrat Asselborn die doppelte Gefahr, dass die identitären, nationalistischen Parteien gestärkt werden und rechtsbürgerliche Kräfte in der Folge Koalitionen mit diesen eingehen könnten. Der durch und durch engagierte Europäer setzt besonders darauf, dass junge Menschen das Interesse an einer stärkeren EU erkennen, seien doch die grossen Probleme wie etwa das der Migration gemeinsam besser zu lösen.

In seinen Bemerkungen zu den akuten Konflikten in der Welt erinnerte Asselborn an das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine, das auch eine Unterstützung durch Dritte einschliesse. Für die Konferenz auf dem Bürgenstock wünschte er der Schweiz «viel Glück». Er hofft, dass die UNO die Fortsetzung übernehmen werde, beurteilt jedoch offenkundig die Aussichten auf einen Friedensprozess als gering, solange Putin nicht in der Defensive ist. Ein Erfolg des russischen Angriffs wiederum hätte Folgen auch für andere Kontinente. Im Nahen Osten sieht der Luxemburger Aussenpolitiker klare Versäumnisse. Hätte man in den letzten zehn Jahren klar auf eine Zwei-Staaten-Lösung hingearbeitet, wofür er sich namentlich bei den USA vergeblich eingesetzt habe, so wäre es nicht zum Massaker der Hamas gekommen. Deren Urheber seien nichtsdestoweniger keine Befreier, sondern Barbaren. - Auf eine Frage zum Verhältnis EU – Schweiz sagte Asselborn, deren Nichtmitgliedschaft sei «kein so grosses Problem», doch müsse die Zusammenarbeit auf ein sehr hohes Niveau gehoben werden.

Europawahlen in der Schweiz

An der Wahl des Europäischen Parlaments darf auch teilnehmen, wer in der Schweiz lebt und (auch) das EU-Bürgerrecht besitzt. Das sind rund 2 Millionen Personen.  Matthias Klein vom CDU-Freundeskreis Schweiz und der Grüne Markus Karner berichteten von den Bemühungen, unter erschwerten Bedingungen Wahlberechtigte zu mobilisieren. Ein Teil der Deutschen müsse die Unterlagen umständlich anfordern, sagte Klein, und öffentlich sichtbare Propaganda würde, selbst wenn sie erlaubt wäre, vermutlich von der Schweizer Bevölkerung «nicht begrüsst». Trotz klaren politischen Differenzen wäre für beide Parteienvertreter eine Stärkung der integrationsfeindlichen Kräfte Grund zu Besorgnis.

Dass sie als Schweizerin in Europa nicht mitbestimmen kann, stört die frühere Politikerin und Diplomatin Gret Haller, Ehrenpräsidentin der SGA. Sozusagen erst recht interessiert sie sich für das Funktionieren der EU und hat darüber ein Buch verfasst («Europas eigener Weg», Rotpunktverlag). Zur politischen Kultur der Union gehört, wie die Autorin bei der Präsentation ausführte, ein hybrides institutionelles System, das dank Machtteilung nicht zuletzt verhindern kann, dass eine (extreme) Mehrheit gleich die volle Dominanz erhält.

Humanitäres Recht – missachtet und vital

Konflikte und die Schwächung multilateraler Ordnungen belasten das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) in besonderer Weise – auch in einem Jahr, in dem man der 1949 verabschiedeten vier Genfer Konventionen gedenkt. Mirjana Spoljaric Egger, seit anderthalb Jahren Präsidentin des IKRK, würdigte die Errungenschaft des humanitären Völkerrechts, das im Krieg den Nichtbeteiligten Schutz und den Opfern eine menschenwürdige Behandlung zusagt. Besondere Bedeutung erhalten diese Prinzipien, wie sie betonte, durch den dahinterstehenden Geist, die Idee universaler menschlicher Werte, die im humanitären Handeln vermittelte Hoffnung und Vision. Realität sei allerdings die tägliche Missachtung der Regeln: Es werden Zivilpersonen getötet, Gefangene gefoltert und Spitäler zerstört. Hinzu kommen im Cyber-Krieg neuartige Waffen, die es erschweren, Kombattanten von Nichtkombattanten zu unterscheiden.

Spoljaric machte deutlich, dass das Rotkreuzrecht nach 75 Jahren immer noch ein lebendiges Fundament ist. Auf dieser Basis wird zum Beispiel eine Regelung für den Einsatz autonomer Waffen angestrebt, werden aber vor allem konkret jeden Tag Menschenleben gerettet. Die Neutralität des IKRK erlaube es ihm grundsätzlich, alle Opfer zu erreichen, und bedeute, auch in den vielen unbeachteten Konflikten präsent zu sein. Statt etwa die Misshandlung von Gefangenen «ohne Wirkung» öffentlich anzuklagen, arbeitet die Organisation durch Einflussnahme bei den verantwortlichen Regierungen und auch bei Drittstaaten, die ihrerseits Einfluss auf jene haben. Das Genfer Komitee wirkt im Weiteren darauf hin, dass das humanitäre Völkerrecht bereits in nationale aussenpolitische Strategien einbezogen wird. Es gelte aber auch, die Ursachen von Konflikten anzugehen, sagte die Präsidentin, sonst werde die humanitäre Aktion zur Ersatzhandlung. Die konkrete Hilfe nach den internationalen Regeln könne indes ein Schritt zu einer längerfristigen Stabilisierung sein. Dementsprechend sollte allen Regierungen bewusst sein, dass der Einsatz des IKRK in Kriegen mit grosser Eskalationsgefahr in einer vernetzten Welt auch dem Schutz der eigenen Bevölkerung diene.

Auf Fragen bestätigte Spoljaric, dass das IKRK im Gazastreifen nicht an die Stelle der UNRWA treten könnte, die dort etwa 80mal so viele Mitarbeitende und ein anders ausgerichtetes Mandat habe. Kriegsgefangene würden auch in Russland und der Ukraine besucht, allerdings seien die betreffenden Verhandlungen «schwierig». Das Rote Kreuz verlangt auch Zugang zu den Geiseln der Hamas, kann ihn aber nicht erzwingen und die Einhaltung humanitärer Pflichten auch nicht zum Gegenstand politischer Tauschgeschäfte machen. Finanzprobleme haben das Komitee veranlasst, die Schutzaufgaben, die es (im Unterschied zur Versorgungsfunktion) als einzige Organisation erfüllen kann, noch stärker zu gewichten.

Eine Fülle von Fragen an die Schweiz

In drei Ateliers wurde mit Blick auf spezifische Themen gefragt, was die Schweiz in der «Welt im Aufruhr» tun sollte und könnte. Sabrina Nick und Sébastien Chahidi (foraus) leiteten die Diskussion über Klimaaussenpolitik. Möglichkeiten konstruktiver Beiträge im Gaza-Krieg wurden in einer Runde um Laurent Goetschel (Direktor von Swisspeace) besprochen. Und was Solidarität mit der Ukraine bedeuten könnte, war Thema eines Workshops, in den Barbara Haering, Präsidentin des Zentrums für humanitäre Minenräumung, einführte.

Der Krieg in Osteuropa stellt die Schweiz vor besonders unangenehme Fragen: Sie betreffen die Neutralität und allfällige Alternativen, die Waffenausfuhr, die Umsetzung der Sanktionen, das Rohstoffgeschäft und ganz handfest den Umfang und die Finanzierung der Hilfe. Gerade auch weil vom globalen Süden nicht einseitig Solidarität mit der Ukraine und Europa verlangt werden könne, wurde davor gewarnt, die Not- und Wiederaufbauhilfe an das kriegsversehrte Land zulasten der Entwicklungszusammenarbeit zu finanzieren. Ob die gleichzeitige Verschuldung zugunsten von Armee und Hilfe ein Ausweg wäre, blieb kontrovers. Die geplante Bürgenstock-Konferenz wurde teils als «zu wenig, zu spät» qualifiziert, teils sogar als möglicher Ansatz zum Aufbau eines Systems kollektiver Sicherheit (ohne den Aggressor) betrachtet.

Auf all diese Herausforderungen soll die Schweiz, wie der neue SGA-Präsident Jon Pult in seinem Schlusswort klarmachte, jedenfalls nicht mit einem Rückzug auf sich selbst reagieren, sondern mit einer aktiven Aussenpolitik, mit Mitsprache und Engagement.

Vortrag Barbara Haering, Solidarität mit der Ukraine