Kolumne

Verfassungsmässige Fortführung der Freizügigkeit

von Professor Thomas Cottier | April 2014
Seit dem 9. Februar 2014 ist die Schweiz in Europa auf Kollisionskurs. Denn Art 121a der Bundesverfassung ist mit dem EU Freizügigkeitsabkommen (FZA) schlicht nicht vereinbar. Das gilt für die Kontingentierung, den Inländervorrang und Beschränkungen des Familiennachzugs. Solange das FZA in Kraft ist, wird es der Verfassungsbestimmung zur Masseneinwanderung vorgehen. Vieles spricht dafür, dass das so bleiben wird.

Die EU hat für eine Steuerung der Binnenwanderung keinen Spielraum, da ein Grundprinzip der europäischen Integration auf dem Spiele steht. Für die Union geht es um ein Recht des Einzelnen und seiner Familie, vergleichbar der Niederlassungsfreiheit der Bundesverfassung als einer der Grundlagen der modernen Schweiz. Die internen Umsetzungsversuche der Initiative werden diesbezüglich am Widerstand der Europäischen Union scheitern. Kein noch so ausgeklügeltes Kontingentssystem wird Zustimmung finden können, weil es den Grundsatz desavouiert und Begehrlichkeiten auch innerhalb der Union hervorruft. Die Selbststeuerung der Einwanderung wird sich weiterhin auf den zweiten Kreis der Drittstaaten beschränken müssen, solange das Freizügigkeitsabkommen besteht.

Die Schweiz steht damit vor der Wahl, die Freizügigkeit weiterzuführen oder das Abkommen und damit die Bilateralen I gesamthaft zu kündigen. Eine Kündigung wird zum Einbruch auch in andern Bereichen führen und neue Abkommen verbauen. Eine Scheidung der langjährigen und guten Beziehungen wäre äussert schmerzhaft. Sie führt zu Desinvestitionen und zum Verlust von Arbeitsplätzen und neuen Diskriminierungen im Ausland. Sie würde die politische Isolation des Landes weiter vertiefen.

Die ersten Vorboten sind schon da: die Suspendierung von Erasmus und der vollen Teilnahme an Forschungsprogrammen auf Kosten der Hochschulen und der forschenden Industrie. Die Vorwirkungen des Protektionismus auf dem Arbeitsmarkt gehen zu Lasten der innovativen Schweiz und damit ihrer Zukunft. Die strukturschwachen Kantone mag dies vorerst wenig kümmern bis sich künftig die Wirkungen negativ auf Finanzausgleich und Agrarsubventionen auswirken werden. Auch innenpolitisch sind die Kosten hoch: die peinlichen Auseinandersetzungen um die künftige Kontingentsregelungen der Branchen und Landsteile widerspiegeln eine innere Zerrissenheit, die wenig zuversichtlich stimmt.

Schweizerinnen und Schweizer wissen genau, dass gute Beziehungen zur EU lebensnotwendig sind. Eine Kündigung der Bilateralen I kommt seitens der Schweiz nicht in Frage. Damit ist auch klar, dass der Umsetzungsspielraum vorgängig mit der EU vor einer internen Umsetzung von Art. 121a BV durch ein Bundesgesetz oder Verordnungsrecht ausgehandelt werden muss. Das ist so auch verfassungsrechtlich vorgesehen. Art. 197 Ziff. 9 Abs. 1 BV sieht vor, dass das Bundesrat Verhandlungen führt und die Verträge anpasst. Die Regierung kann den Verhandlungsauftrag wahrnehmen, nicht aber die Anpassung gewährleisten. Denn dazu bedarf es der Zustimmung des Vertragspartners. Konzessionen werden hier – wenn überhaupt - nur zu einem hohen Preise und im Rahmen eines Gesamtpaketes möglich sein. Dies wird nicht nur die Ueberwachung und Gerichtsbarkeit für eine verbesserte Durchsetzung umfassen, sondern auch ein allgemeines Dienstleistungsabkommen und ein Energieabkommen. All diese Themen sind umstritten. Offen ist, ob sie durchkommen. Es ist daher durchaus möglich, dass die Freizügigkeit im Ergebnis ab 2017 so weitergeführt wird, wie sie heute besteht. Das ist mit der Verfassung durchaus vereinbar. Denn das FZA ist unmittelbar anwendbar. Es geht den programmatischen Bestimmungen von Art. 121a BV vor. Und solange das Abkommen in Kraft ist, werden Parlament und Bundesrat die Verfassungsbestimmung nicht gegen völkerrechtliche Verpflichtungen des Landes umsetzen. Der Grundsatz der Vertragstreue (pacta sunt servanda) verbietet dies, ganz abgesehen von den zu erwartenden Retorsionsmassnahmen, welche die EU in der Folge einseitig im ganzen Spektrum der Verträge ergreifen könnte.

Die Schweiz muss aus der Abstimmung vom 9.2. 2014 ihre Lehren ziehen. Sie muss erkennen, dass die Rückkehr zu autonomen Politiken in Kernbereichen der europäischen Integration ohne Scherbenhaufen nicht mehr möglich ist. Sie muss erkennen, dass sich eine Politik der Ausgrenzung und Stigmatisierung von Ausländerinnen und Ausländern keine Zukunft hat. Sie schadet der Heimat. Probleme müssen vielmehr in den einzelnen Politikbereichen sachgerecht behandelt werden (Bildung, Raumplanung, Steuerpolitik). Die Schweiz muss erkennen, dass die politische Rechtlosigkeit eines ganzen Viertels ihrer Einwohner international nicht ohne Reaktionen und Schutzbemühungen bleiben kann. Vor allem muss die Schweiz aus ihrer eigenen Ziellosigkeit und defensiven Haltung herausfinden. Protektionismus und Abschottung werden das Land zerreissen. Hundert Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges muss sie erkennen, dass ihr Selbstwert und ihre Wertschätzung vom Beitrag abhängen, den sie für den Aufbau Europas in einer globalisierten Welt leistet.